vfa-Faktencheck zum „Arzneimittel-Kompass 2025“
Der AOK-Bundesverband und das wissenschaftliche Institut der AOK (WIdO) haben am 9. Dezember 2025 den „Arzneimittel-Kompass 2025“ veröffentlicht. Der vfa hat sich mit einigen Aussagen des Arzneimittel-Kompass auseinandergesetzt und diese einem Faktencheck unterzogen.

Aussage 1:
Das AMNOG bleibe im Kern preisblind, kenne keine Preisobergrenzen und ermögliche so eine „völlig freie Preisfestlegung durch die Pharma-Industrie“. Zugleich können „selbst Arzneimittel ohne belegten Zusatznutzen hohe Erstattungsbeträge erzielen“. Bei Indikationserweiterungen werde keine Bewertung durchgeführt und der Erstattungsbetrag werde nicht angepasst.
vfa-Check
Diese Feststellungen widersprechen den Grundprinzipien und Vorgaben der AMNOG-Regulierung. Sie geben klar vor, dass die Kosten neuer Arzneimittel mit einem nicht belegten Zusatznutzen die Kosten der zweckmäßigen Vergleichstherapie nicht übersteigen sollen. Diese Preisobergrenze ist im SGB V klar verankert. Das Prinzip, dass der Preis neuer Arzneimittel an den Zusatznutzen gekoppelt sein soll, wurde vielmehr durch die “Leitplanken” gebrochen: denn selbst ein Mehr an Nutzen darf inzwischen in bestimmten Fällen nicht mehr kosten.
Alle AMNOG-Arzneimittel durchlaufen eine Preisverhandlung unter den o.g. Vorgaben. Dabei führen 96 Prozent der AMNOG-Verfahren zu einem frei verhandelten Erstattungsbetrag, der einen Interessenausgleich zwischen dem GKV-Spitzenverband (der als Monopsonist agiert) und dem jeweiligen pharmazeutischen Unternehmen darstellt. Die Schiedsstelle muss nur in wenigen Fällen für eine Entscheidung sorgen, welche die Forderungen des GKV-Spitzenverbandes berücksichtigt.
Fakt ist zudem, dass jede Indikationserweiterung eine AMNOG-Nutzenbewertung und Neuverhandlung des Erstattungsbetrags auslöst. Jede andere Behauptung widerspricht den Vorgaben im SGB V.
Aussage 2:
Kommt es zu Verzögerungen im Verhandlungsprozess, verlängere sich der Zeitraum unregulierter Preisbildung im AMNOG. Dazu zähle z.B., dass nach der G-BA-Bewertung „Rückspracheverfahren“ eingefordert werden können, um Zeit zu gewinnen.
vfa-Check
Auch diese Aussagen stehen exemplarisch für grobe inhaltliche Fehler des „Arzneimittel-Kompass 2025“. Denn: Die Erstattungsbeträge greifen immer rückwirkend ab dem 7. Monat, egal wie lange eine Verhandlung dauert oder eine Entscheidung der Schiedsstelle braucht. So steht es buchstäblich im SGB V. Eine Verlängerung des Zeitraums unregulierter Preisbildung existiert schlichtweg nicht. Ebenso existieren im AMNOG auch keinerlei „Rückspracheverfahren“.
Aussage 3:
Es gebe einen Trend zu hohen Preisen bei neuen Arzneimitteln, da die Durchschnittspreise pro Arzneimittelpackung in den letzten 15 Jahren angestiegen sind. Es werde “immer mehr Geld für immer weniger Versorgung ausgegeben”.
vfa-Check
Fakt ist, dass der medizinische Fortschritt immer mehr zielgerichtete Therapien ermöglicht. Die Häufigkeit der Erkrankungen bzw. die Anzahl der Betroffenen, die mit neuen Arzneimitteln behandelt werden können, ist heute um 97 Prozent geringer als noch vor 15 Jahren. Dieser Trend gilt gleichermaßen auch bei neuen Arzneimitteln, die nicht als Orphan Drugs zugelassen sind. Bei immer kleineren Patient:innenzahlen ist es ökonomisch nur naheliegend, dass die durchschnittlichen Packungspreise nicht gleich hoch bleiben können. Ein Arzneimittel für nur 10 Patient:innen kann sich nicht auf demselben Preisniveau bewegen, wie Arzneimittel für 100.000 Patient:innen. Ein simpler Vergleich der durchschnittlichen Packungspreise ist daher irreführend.
Die neuen Arzneimittel müssen zudem deutlich seltener eingenommen werden, weil sich die Behandlungsintervalle in den letzten Jahrzehnten deutlich verändert haben. In einigen Fällen, beispielsweise bei Gentherapien, handelt es sich um hochinnovative Einmalanwendungen. Es ist erstaunlich, dass auch diese essenziellen Zusammenhänge im Arzneimittel-Kompass erneut unreflektiert bleiben.
Für eine sachgerechte Analyse ist es notwendig, neben Packungspreisen auch die Verordnungshäufigkeit und die Größe der Zielpopulation zu berücksichtigen. Dabei zeigt sich, dass die Neueinführungen von heute keinen größeren Preis-Mengen-Effekt haben als die vor zehn Jahren.
Aussage 4:
Mithilfe einer „Orphanisierung“ werde die regulatorische Sonderstellung von Arzneimitteln für seltene Erkrankungen im AMNOG gezielt ausgenutzt.
vfa-Check
Die Einführung der EG-Verordnung über Arzneimittel für seltene Erkrankungen Anfang 2000 ist eine europäische Erfolgsgeschichte, die in zahlreichen Therapieoptionen gegen seltene Erkrankungen mündete. Der Beitrag der ACHSE zum „Arzneimittel-Kompass“ stellt dies, aber auch die ökonomischen Herausforderungen ausgewogen dar und betont den Nutzen dieser Arzneimittel für die Patient:innen.
Die seit Jahren vorgebrachte, aber nie belegte Behauptung, aus häufigen Erkrankungen würden seltene gemacht, ist falsch. Medikamente, die für eine Untergruppe von Patient:innen mit einer häufigeren Erkrankung vorgesehen sind, erhalten von der EMA bzw. der Europäischen Kommission den Orphan Drug-Status nicht. Das belegt die Zuerkennungspraxis bei mittlerweile gut 3000 Orphan Drug-Designations seit Inkrafttreten der Verordnung.
Fakt ist zudem, dass trotz wachsender Zahl verfügbarer Therapien der GKV-Umsatz mit Orphan Drugs über Jahre konstant blieb – der jüngste Anstieg 2024 ist vor allem auf einen Sondereffekt durch gesetzliche Änderungen zurückzuführen (siehe Spotlight Orphan Drugs).
Der Vorwurf, durch die Entwicklung von Arzneimitteln gegen seltene Erkrankungen würde das AMNOG-Verfahren umgangen, ist falsch. Fakt ist, dass Orphan Drugs bereits im Zulassungsverfahren ihren Nutzen gegenüber anderen Therapien belegen müssen. Dieser gilt damit im AMNOG als belegt, solange das Arzneimittel nicht innerhalb von 12 Monaten einen Umsatz von mehr als 30 Mio. Euro generiert. Dann müssen sie sich einer erneuten, vollumfänglichen Nutzenbewertung inkl. erneuter Preisverhandlung unterziehen. Diese Umsatzschwelle liegt schon lange nicht mehr bei 50 Mio. Euro, wie im Arzneimittel-Kompass noch an vielen Stellen zu lesen ist, und lag noch nie bei 100 Mio. Euro – auch diese Angabe findet sich in dem Report.
Insgesamt unterliegt der Großteil der Orphan Drug-Umsätze bereits einer vollumfänglichen Nutzenbewertung: Im Jahr 2024 wurden 79 Prozent der GKV-Arzneimittelausgaben für Orphan Drugs von den 25 Prozent der Orphan Drugs mit Jahresumsätzen oberhalb der Umsatzschwelle generiert.
Dreiviertel der Orphan Drugs erzielen allerdings nur geringe Umsätze – für sie ist die Orphan Drug-Regelung existenziell. Ohne diese Regelung bestünde für sie ein erhebliches Risiko einer Marktrücknahme.
Aussage 5:
Die Preisverhandlungen zu neuen Arzneimitteln würden zu einem sogenannten „Turmtreppeneffekt“ führen.
vfa-Check
Das Gegenteil ist der Fall. Bei nahezu allen Arzneimitteln führt die Erstattungsbetragsverhandlung zu mindestens einer initialen Preissenkung. Verfolgt man die Entwicklung der einzelnen Erstattungsbeträge weiter, so zeigt sich, dass bei zwei Dritteln aller AMNOG-Arzneimittel im betrachteten Zeitraum mindestens zwei Preissenkungen erfolgt sind. Bei knapp der Hälfte der Arzneimittel wurde der Preis sogar mindestens dreimal abgesenkt. Ein bedeutsamer Anteil der Arzneimittel erfuhr weitere Preissenkungen. Für die meisten neuen Arzneimittel führt das bestehende Preisregulierungsverfahren also zu einer stetigen Preisspirale nach unten (Kellertreppeneffekt). Die Preissenkungen ergeben sich insbesondere aufgrund von Neubewertungen oder von initiierten Neuverhandlungen im Rahmen des AMNOG-Verfahrens.
Aussage 6:
Die Arzneimittelausgaben seien im Jahr 2024 um “rund 10 Prozent gestiegen”. Zudem wird postuliert, dass der “Anteil patentgeschützter Arzneimittel 2024 bei 54 Prozent der Gesamtkosten” liege, “obwohl ihr Anteil an verordneten Tagesdosen im gleichen Jahr nur sieben Prozent” bemessen hat.
vfa-Check
Diese Darstellung ist verkürzt, da 2024 der temporär auf 12 Prozent erhöhte Herstellerabschlag wieder auf 7 Prozent zurückgeführt wurde. Diese Rückführung wurde im GKV-Finanzstabilisierungsgesetz festgelegt und in der Pharmastrategie der Bundesregierung am 13.12.2023 mit dem Verweis bekräftigt, dass das Niveau von 7 Prozent dauerhaft gehalten werden soll.
Das hohe Wachstum war infolge des statistischen Sondereffektes erwartet worden, ohne dass dadurch mehr verkauft wurde oder die Preise stiegen. Diese Entwicklung ist vergleichbar mit der kurzzeitigen Absenkung der Mehrwertsteuer im Jahr 2020. Die Rückführung der abgesenkten Mehrwertsteuer auf das Ursprungsniveau sorgte ebenfalls für außergewöhnlich hohe Umsatzzuwächse, die sich nach und nach wieder normalisierten. Schon damals präsentierte das WIdO die Wachstumsraten ohne eine sachgemäße Einordnung.
Auch entwickeln sich die Arzneimittelausgaben nicht außergewöhnlich. Die tatsächliche Entwicklung entspricht genau dem, was aufgrund von Inflation und einer höheren Inanspruchnahme infolge einer alternden Gesellschaft zu erwarten ist (Arzneimittel als Zukunftsinvestition).
Fakt ist, dass der Anteil der patentgeschützten Arzneimittel am GKV-Arzneimittelmarkt seit Jahren stabil unter 50% liegt – richtigerweise sind die gewährten Rabatte und die Mehrwertsteuer abgezogen. Hinzukommt, dass eine alleinige Betrachtung von Packungspreisen oder verordneten Tagesdosen über die Arzneimittelmarktentwicklung nichts aussagt.
Fazit
Festzuhalten ist, dass der „Arzneimittel-Kompass 2025“ eine Reihe grober inhaltlicher Fehler enthält und der Themenkomplexität nicht gerecht wird. Auch insgesamt wirkt der Arzneimittel-Kompass wie ein aus der Zeit gefallenes Relikt. Er diskutiert Ausgaben und Preise weitgehend im nationalen Tunnelblick und blendet zentrale geo- und industriepolitische Verschiebungen aus. Weder die massive Verschärfung des Standortwettbewerbs noch der damit einhergehende Innovationsrückstand Europas werden adäquat adressiert. Vor allem aber ignoriert der Kompass die Tragweite des Most-Favored-Nations-Prinzips (MFN) und seine möglichen Folgen für Deutschland und Europa. Eine wissenschaftlich adäquate Analyse müsste daher auch die langfristigen Risiken für die Versorgungssicherheit und den Innovationszugang in den Mittelpunkt stellen.