Die lange Reise der Patienten
Manche seltene Krankheit sieht ein Arzt in seinem Arbeitsleben nur bei einem einzigen Patienten. Da ist es nicht verwunderlich, dass Menschen mit seltenen Erkrankungen oft jahrelang weder die richtige Diagnose noch eine wirksame Therapie erhalten. Ihre Krankengeschichte ist eine lange Reise zwischen Erfolgen und Rückschlägen, Hoffnungen, Verzweiflung und Angst.

Die Odyssee beginnt sehr oft lange vor der Diagnose. Denn weil die Krankheiten selten sind, sind auch die Experten und die entsprechenden Fachkliniken selten. Die Spanne, bis nach vielen Arztbesuchen die Krankheit korrekt diagnostiziert ist, misst sich eher in Jahren denn in Monaten – für die Betroffenen und ihre Angehörigen ein zusätzlicher Faktor der Unsicherheit.
Auch die Symptome mancher dieser Krankheiten machen eine Diagnose nicht einfach. Ein Kleinkind, das eher ängstlich und zurückgezogen ist – wer kommt da auf einen Gendefekt? Aber das Fragile-X-Syndrom, das auf einem Gendefekt auf dem X-Chromosom beruht, löst genau solche Symptome aus. Die Betroffenen leiden zudem unter Lern- und Sprachstörungen sowie Aufmerksamkeitsdefiziten. Eltern berichten davon, dass es bis zu zehn Jahre gedauert hat, bis die Krankheit ihrer Kinder endlich diagnostiziert wurde. In der gesamten EU sind ungefähr 100.000 Menschen betroffen. Zugelassene Medikamente gibt es noch keine – aber 16 Wirkstoffe sind in der Entwicklung.
Viele seltene Erkrankungen lösen eine ganze Kaskade von Beschwerden aus – es sind sogenannte Multi-Systemerkrankungen, die hochkomplex sind. Die Amyloid-Polyneuropathie beispielsweise manifestiert sich durch ein ganzes Bündel von neurologischen, kardiologischen oder gastro-intestinalen Beschwerden. Diagnose und Behandlung können nur funktionieren, wenn Spezialisten fachübergreifend zusammenarbeiten.
Und auch das gibt es: Manchmal führen die Symptome einer seltenen Erkrankung auf eine falsche Fährte. Eine Lungenfibrose etwa wird oft mit Asthma verwechselt – und dann viel zu spät diagnostiziert bzw. falsch behandelt.
Wie soll z. B. ein Allgemeinarzt rund 8.000 seltene Krankheiten kennen? Das geht natürlich nicht. Deshalb ist es wichtig, dass die notwendige Infrastruktur, so wie es im Nationalen Aktionsplan des NAMSE vorgesehen ist, weiter ausgebaut wird. Dazu gehören z. B. Fachzentren und Kompetenznetzwerke, in denen Spezialisten interdisziplinär zusammenarbeiten. Oder Lotsen, die bei unklaren Diagnosen dafür sorgen sollen, dass Menschen mit seltenen Leiden schneller den Weg zu einem Spezialisten finden.
Das alles zeigt: Die seltenen Erkrankungen müssen noch mehr ins Scheinwerferlicht unseres Gesundheitssystems gerückt werden. „Den Seltenen eine Stimme geben“, nennt das die Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen, ACHSE e. V.