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#MacroScopePharma 10/22

Der Economic Policy Brief des vfa



Herbstprognose: Energiekrise stürzt Deutschland in Rezession


Die Weltwirtschaft ist krisengeschüttelt. Krieg, die Folgen der Corona-Pandemie und die daraus resultierende Explosion der Preise lasten auf der globalen Wirtschaft. Haushalte erleben einen massiven Kaufkraftentzug, Unternehmen agieren angesichts der globalen Unsicherheit vorsichtig. Zentralbanken versuchen mit Zinsschritten die Inflationserwartungen zu dämpfen und bremsen damit die Investitionstätigkeit. Die Krise macht auch vor der Pharmaindustrie nicht halt. Wirtschaftspolitisch steht Deutschland vor großen Herausforderungen.

Weltkonjunktur im Abschwung

Quartalswerte, Jahresdurchschnitte, Jahresraten und Vierteljahresraten

Deutschland in der Rezession

Deutschland ist als exportorientierte und rohstoffarme Volkswirtschaft von den jetzigen Entwicklungen in besonderer Weise betroffen. Einerseits steigen die Preise für Rohstoffe und Vorleistungen rapide. Andererseits lässt die globale Nachfrage nach Investitionsgütern nach. Zwar sind die Auftragsbücher der Unternehmen nach wie vor gut gefüllt – der Auftragseingang sinkt aber seit dem Jahresbeginn deutlich. Hinzu kommt, dass die Unsicherheit über eine drohende Rationierung von Gas in diesem Winter sehr hoch ist. Die Industrie unternimmt deshalb große Anstrengungen, den Gasbedarf zu reduzieren. Gegenüber dem Vorjahr ist der industrielle Gasverbrauch bereits um über 20 Prozent reduziert worden.(2)

Auch wenn eine hinreichende Menge Erdgas verfügbar ist: Im Herbst dürfte die deutsche Wirtschaft in eine Rezession gerutscht sein. Lieferengpässe und die explodierenden Energiepreise, die sich entlang der Wertschöpfungskette in den Produktionskosten widerspiegeln, hemmen das verarbeitende Gewerbe. Die Industrieproduktion ist schon seit geraumer Zeit auf einen Abwärtstrend eingeschwenkt, der sich seit dem Beginn des Krieges gegen die Ukraine beschleunigt hat. Die sich immer weiter eintrübende Unternehmensstimmung spricht dafür, dass die Industrie im Winterhalbjahr ihre Produktionsleistung merklich reduzieren wird.

Auch auf dem Arbeitsmarkt werden die Spuren der Krise sichtbar. Der Beschäftigungsaufbau lässt deutlich nach – im kommenden Jahr dürfte die Beschäftigung sogar schrumpfen. Gerade die gut bezahlte Beschäftigung in der Industrie und den industrienahen Bereichen wird in Mitleidenschaft gezogen, mit entsprechenden Auswirkungen auf die Einkommen und den privaten Verbrauch. Die Arbeitslosenquote dürfte im Jahr 2023 um knapp einen halben Prozentpunkt höher ausfallen als im Jahr 2022, die Zahl der Arbeitslosen liegt dann bei 2,59 Millionen. Dies liegt auch daran, dass eine große Zahl Geflüchteter in der Arbeitsmarktstatistik auftauchen wird. Im Jahr 2024 dürfte mit der zu erwartenden konjunkturellen Belebung dann auch eine Entspannung auf dem Arbeitsmarkt eintreten.

Tabellarische Auflistung der Daten für BIP, Erwerbstätige, Arbeitslose, Infaltion und Industrieproduktion für die Jahre 2021 bis 2024

Erschwerend kommt hinzu, dass der Teuerungsschub bei den Verbraucher:innen noch gar nicht in vollem Umfang angekommen ist: Nicht zuletzt wegen der vertraglichen Preisbindungen bei Energie werden die jetzt gestiegenen Einkaufspreise erst nach und nach von den Versorgern weitergegeben. Die Inflation erreicht erst um den Jahreswechsel ihren Zenit und zehrt daher sowohl 2022 als auch 2023 mit jeweils deutlich über 8 Prozent an der Kaufkraft. Die Ersparnisse, die während der Corona-Krise aufgebaut wurden, sind bereits jetzt aufgezehrt.(3) Der Konsum wird daher im Winterhalbjahr voraussichtlich sinken und die Wirtschaftsleistung deutlich dämpfen.

Die Investitionen werden das vierte Jahr in Folge äußert schwach bleiben. Während der Corona-Krise waren es primär die Bauinvestitionen, die die Investitionstätigkeit stützten. Nun ist auch diese Säule weggebrochen, denn die Finanzierungsbedingungen haben sich bei steigenden Preisen seit Jahresbeginn deutlich verschlechtert. Die Unternehmen disponieren wegen der hohen Unsicherheit und der höheren Zinsen ebenfalls vorsichtig. Die Investitionen werden in diesem Jahr wahrscheinlich leicht sinken und in den Folgejahren nur äußerst zögerlich ausgeweitet werden. Zusammengenommen lasten die Krisenjahre erheblich auf Deutschlands Wachstumspotenzial: Eigentlich müssten jetzt hohe Beträge für moderne Maschinen und Anlagen aufgewendet werden, um die Energiewende voranzutreiben und die Folgen des demografischen Wandels zu kompensieren.

Im Zuge der global abflauenden Industriekonjunktur bleibt die Investitionszurückhaltung nicht auf Deutschland beschränkt. Damit schwächeln auch die besonders auf Investitionen ausgerichteten deutschen Exporte da gleichzeitig erheblich mehr importiert wird, sinkt der Handelsbilanzüberschuss bei abnehmender Tendenz auf unter 2 Prozent.

Alles in allem sinkt das Bruttoinlandsprodukt im kommenden Jahr um 0,5 Prozent, in der Rate für das Jahr 2024 spiegelt sich die Erholung ab dem kommenden Sommer wider. Sie bleibt aber aufgrund der schwachen Industriekonjunktur mit gut 1,3 Prozent deutlich verhaltener als von den führenden Wirtschaftsforschungsinstituten prognostiziert. Diese rechnen mit knapp 2 Prozent Wachstum im Jahr 2024.

Industrie in der Krise

Das verarbeitende Gewerbe nährt sich momentan noch von einem üppigen Auftragspolster, das vor allem wegen der langen Lieferzeiten bei Vorleistungen aufgebaut wurde. Dies schürt die Hoffnung auf eine kräftige Erholung in der Industrie, sobald Lieferengpässe bei Vorprodukten überwunden sind. Wie lange die derzeit außergewöhnlich hohen Auftragsbestände tragen, und inwieweit auch lange zurückliegende Bestellungen noch aufrechterhalten werden, ist indes unklar. Die Neubestellungen deuten eher auf eine stark nachlassende Nachfrage hin.

Ein guter Teil der Aufträge wird gleichwohl abgearbeitet werden, ein Produktionsfeuerwerk indes nicht einsetzen (Abbildung 1). Die hohen Energiekosten – sie dürften zwar von den derzeitigen Rekordwerten zurückgehen, aber auch langfristig deutlich über dem gewohnt niedrigen Niveau der vergangenen Jahre bleiben – und die Unsicherheit über die Energieversorgung verhindern aller Voraussicht nach einen deutlichen Anstieg der Industrieproduktion.

Viele Unternehmen müssen auf neue Lieferstrukturen umstellen – insbesondere in den energieintensiven Branchen setzt dieser Wandel ein: Große Anpassungsprozesse finden beim Bezug von Erdgas und Energie allgemein statt. Auch für sonstige Vorleistungen müssen wegen der Lieferkettenprobleme neue Bezugsquellen erschlossen werden. Die Industrie wird den bereits seit Ende 2018 angelegten Abwärtstrend daher kaum umkehren können. Eine Erholung ist erst ab dem kommenden Sommer zu erwarten.

Pharmaindustrie: Veränderte Geschäftsgrundlage trübt Ausblick

Auch in der Pharmaindustrie zeigt sich eine konjunkturelle Abkühlung, die – im Gegensatz zur Industrie insgesamt – unter dem Strich nicht zu einem Rückgang der Wertschöpfung in diesem Jahr führen wird. Nach dem Plus im Vorjahr (vgl. Tabelle 1) und dem starken Jahresbeginn 2022, der insbesondere wegen der Herstellung von Impfstoffen außergewöhnlich kräftig ausfiel, ist seit dem Frühsommer eine insgesamt rückläufige Pharmaproduktion zu konstatieren (Abbildung 3, links). Dies liegt auch an den erheblichen Preissteigerungen bei den Vorleistungen. Der Produktionsanstieg in der Branche wird daher deutlich geringer ausfallen, als noch zu Jahresbeginn erwartet. Vorausgesetzt, das Aktivitätsniveau sinkt zum Jahresausklang nicht noch einmal deutlich, setzt sich die Pharmaindustrie damit von der übrigen Industrie ab, deren Produktion im Jahresvergleich rückläufig sein dürfte. Die Pharmaproduktion dürfte in diesem Jahr mit fast einem Prozent immerhin noch einen Zuwachs erfahren.

Die jüngsten Rückgänge in der Branche sind auf die Inlandsumsätze zurückzuführen, die zuletzt das Niveau der ersten Jahreshälfte bei weitem nicht halten konnten (Abbildung 3, rechts). Offenbar fällt die heimische Nachfrage nach Impfstoffen derzeit deutlich geringer aus. Dies könnte sich mit den steigenden Corona-Infektionszahlen indes rasch ändern. Dagegen dürfte der Trend bei den Auslandsumsätzen anhalten, der – anders als bei den heimischen Umsätzen – bereits vor der Krise merklich aufwärtsgerichtet war. In Euro gerechnet legen die Umsätze dieses Jahr mit rund 7,5 Prozent stärker zu als in realer Rechnung (plus 3,5 Prozent). Rund vier Prozentpunkte gehen nämlich auf die Teuerung zurück. Während jedoch die Industrie insgesamt mit deutlich kräftigeren Preisaufschlägen die Kostenschübe an die Abnehmer weiterreicht, steigen die Absatzpreise der Pharmaindustrie vergleichsweise wenig (Abbildung 4). Vor allem im Inland: Dort lagen sie zuletzt lediglich um rund 2 Prozent höher, die der Industrie dagegen um knapp 15 Prozent.(4)

Der Ausblick hat sich in den vergangenen Monaten eingetrübt: Mittlerweile beläuft sich die Produktionsleistung auf einen geringeren Wert als im Jahr zuvor und die Erwartungen der Unternehmen haben sich, wie in der übrigen Industrie auch, spürbar verschlechtert. Im Vergleich zu einigen anderen Branchen dürften die Auftragsbestände die Lage kaum stützen: Mit gut anderthalb Monaten liegt die Auftragsreichweite in etwa auf dem Niveau von vor der Corona-Krise. Zum Vergleich – mit acht Monaten reichen die Aufträge in der Industrie insgesamt deutlich weiter als üblich. Die Umsätze – und damit auch die Produktion(5) – dürften im Jahr 2023 geringer ausfallen (um gut 4 Prozent) und im Jahr 2024 kaum steigen. Dabei dürfte auch eine Rolle spielen, dass – ähnlich wie in der Chemie – Teile der Produktion an Standorte verschoben werden, an denen günstigere Faktorkosten herrschen.

Bei alldem ist die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zuletzt spürbar gestiegen. Aufgrund der nachlassenden Dynamik in der Produktion lässt sich wohl nicht an die kräftigen Zuwächse der vergangenen zwei Jahre anknüpfen. Aber sowohl dieses als auch kommendes Jahr dürfte die Zahl der Beschäftigten steigen: Unterstellt man ab Sommer Produktivitätszuwächse wie in der gesamten Industrie, ergeben sich Zuwächse zwischen 0,5 und 0,75 Prozent. Indes wollen sich die Unternehmen laut Umfragen bei weiteren Einstellungen künftig zurückhalten. Im Jahr 2024 dürfte der Beschäftigungsaufbau zum Erliegen kommen – oder gar ein leichter Abbau einsetzen.

Ein wesentlicher Grund für die Zurückhaltung bei Neueinstellungen und bei der Korrektur der Wachstumserwartungen ist das jetzt beschlossene GKV-Finanzstabilisierungsgesetz: Dieses ändert die Geschäftsgrundlage der Industrie erheblich. Der sogenannte Herstellerabschlag sieht eine zusätzliche Belastung der Branche von rund 1,3 Milliarden Euro für das kommende Jahr vor. Dies erhöht den teuerungsbedingten Kostendruck drastisch. Weitaus gravierender sind allerdings die Änderungen bei den Erstattungsmodalitäten.

Die nun beschlossenen Neuregelungen setzen eine Abwärtsspirale bei innovativen Arzneimitteln in Gang, die Innovationen und Investitionen erheblich belastet.(6) Schätzungen zeigen, dass mit der Anhebung des Herstellerabschlags vor gut zehn Jahren die Investitionsleistung der Industrie um gut zwei Milliarden Euro sank,(7) und zugleich die Aufwendungen für Forschung und Entwicklung reduziert wurden. Ähnliches ist nun auch zu erwarten.

Wirtschaftspolitik vor großen Herausforderungen

Der Rückschlag kommt zur Unzeit: Die akuten Krisen werfen Deutschland in eine Rezession. Die in den letzten Jahren ohnehin schwache Investitionstätigkeit wird damit nochmals reduziert und das künftige Wachstum beschnitten. Allerdings sind diese Investitionen dringend notwendig. Die Energiekrise und die anstehende demografische Wende erfordern erhebliche Aufwendungen für Sachkapital und Innovationen, um die Produktivität und damit das Wachstumspotenzial zu stärken. Der nun beschleunigte Strukturwandel in der Industrie muss gestaltet werden – neue Leitbranchen werden benötigt. Global wird der Markt für Gesundheitsleistungen in den kommenden Jahren deutlich wachsen – dies ist allein über die demografische Entwicklung in den Industrieländern angelegt. In einem solchen Umfeld ist eine Politik klug, die nicht nur die Produktion für den Eigenbedarf anstrebt, sondern darüber hinaus Exportüberschüsse erwirtschaftet. Die jetzigen politischen Beschlüsse hemmen einen der innovativsten Wirtschaftszweige Deutschlands massiv. Dies ist auch ein Rückschlag für eine Wirtschaftspolitik, die auf Innovationen und eine aufstrebende Biotechnologie setzen will.

Benötigt werden dagegen klare Bekenntnisse für eine starke pharmazeutische Industrie als eine Leitbranche, damit diese ihre Rolle als innovativer Motor der industriellen Gesundheitswirtschaft mit ihren mehr als einer Million Beschäftigten in Deutschland wahrnehmen kann. Dazu gehören auch hohe öffentliche Investitionen in die digitale Infrastruktur, die konsequente Öffnung der Gesundheitsdaten für die privat finanzierte Forschung und Entwicklung, eine rasche Verbesserung der Investitionsbedingungen, sowie ein Erstattungssystem, das Anreize für Innovationen schafft.

Damit der ökonomische Schaden der Krise gering bleibt, sollte die Wirtschaftspolitik den Blick sowohl auf die kurzfristige Kompensation sozialer Härten als auch auf wachstumsorientierte Impulse richten. Sie sollte zum Ziel haben, die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern drastisch zu senken, Innovationen in den zukunftsfähigen Technologiefeldern anzustoßen und Investitionen in hochmoderne Produktionsanlagen zu fördern.

Fußnoten:

(1) Vorliegende Prognose lehnt sich an die Gemeinschaftsdiagnose der führenden Wirtschaftsforschungsinstitute an. Diese veröffentlichen sie halbjährlich, zuletzt am 29. September: vgl. Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose (2022): Energiekrise: Inflation, Rezession, Wohlstandsverlust, online verfügbar. Bei all dem ist unterstellt, dass es im Winter nicht zu einer Rationierung von Erdgas kommt.

(2) Vgl. Bundesnetzagentur (2022), Aktuelle Lage der Gasver-sorgung in Deutschland, online verfügbar.

(3) Vgl. Wollmershäuser, T. (2022). Inflation frisst Überschussersparnis. ifo Schnelldienst Digital, 3(4), Seiten 01-02, online verfügbar.

(4) Vgl. vfa (2022), Stark steigende Preise für Vorleistungen: Unternehmen in der Kostenfalle, Macroscope Pharma Economic Policy Brief Nr. 07/22, online verfügbar.

(5) Dabei wird unterstellt, dass die Lieferengpässe die Produktion nur noch im Winter etwas hemmen und sich ab Frühjahr auflösen.

(6) Vgl. vfa (2022), Stellungnahme zum Gesetzentwurf
für ein GKV-Finanzstabilisierungsgesetz (GKV-FinStG), Stellungnahme anlässlich der Anhörung im Gesundheits-ausschuss des Deutschen Bundestags, Ausschussdrucksa-che 20(14)53(3), online verfügbar.


(7) Vgl. vfa (2022), Geringe Investitionen belasten Deutschlands Wachstum, Macroscope Pharma Economic Policy Brief Nr. 06/22, online verfügbar.

Autor:

Dr. Claus Michelsen
Geschäftsführer Wirtschaftspolitik
Dr. Claus Michelsen

Telefon 030 20604-120

c.michelsen@vfa.de

Pressekontakt:

Henrik Jeimke-Karge
Pressesprecher Wirtschaftspolitik
Henrik Jeimke-Karge

Telefon 030 20604-205

h.jeimke-karge@vfa.de