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Die neue WHO-Roadmap 2030 zu NTDs

Die WHO hat einen neuen Aktionsplan zur Bekämpfung Vernachlässigter Tropenkrankheiten, kurz NTDs, beschlossen. Im Interview klärt der Mediziner Prof. Dr. KH Martin Kollmann die wichtigsten Fragen.

Hochland-Szenerie mit eingefügten wegmarken

NTD steht für Neglected Tropical Diseases. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) fasst mit der Bezeichnung armutsassoziierte, vernachlässigte Tropenkrankheiten zusammen. Weltweit leiden mehr als 1 Milliarde Menschen an diesen Infektionskrankheiten; die Hälfte von ihnen sind Kinder. Meist sind arme, „vernachlässigte“ Bevölkerungsgruppen in einem Land betroffen. Manche NTDs kommen aber auch außerhalb tropischer Länder vor.

Die Neue WHO-NTD Roadmap wird weltweit einer breiten Öffentlichkeit vorgestellt, was ist das Neue?

Prof. Dr. Martin Kollmann ist Gründungs- und Ehrenmitglied des Deutschen Netzwerks gegen vernachlässigte Tropenkrankheiten, kurz DNTDs, und Experte für NTD bei der Christoffel-Blindenmission, kurz CBM.Prof. Dr. KH Martin Kollmann, NTD-Experte bei der Christoffel-BlindenmissionZunächst einmal baut die neue WHO NTD Roadmap 2030 auf den Erfolgen einer außergewöhnlichen Multiakteurs-Partnerschaft auf. Mit den Erfahrungen einer über Jahrzehnte gewachsenen Zusammenarbeit z.B. in der Flussblindheits- und Trachom-Bekämpfung hat sich diese Koalition aus Landesprogrammen, Implementierungspartnern, Forschungsinstitutionen, dem Pharmasektor und von der Krankheitslast betroffenen Gemeinden 2012 mit der „London Declaration“ gemeinsame Ziele auf dem Weg zur weltweiten Kontrolle und Eliminierung von NTDs gesetzt.

Im Ergebnis haben bis 2020 bereits 42 Länder eine oder mehrere der von der WHO als NTDs definierten 20 Tropenkrankheiten eliminiert. Zu diesen beeindruckenden Fortschritten haben nicht zuletzt umfangreiche und langjährige Medikamenten-Spenden forschender Pharma-Unternehmen beigetragen, zudem innovative Ansätze zivilgesellschaftlicher Hilfsorganisationen, wie der CBM. Allerdings waren viele Interventionen in der Vergangenheit im Wesentlichen auf einzelne Erkrankungen fokussiert und haben dabei Wechselwirkungen sowie überschneidende Krankheitslasten und gemeinsame Interventionsmöglichkeiten zu wenig in den Blick genommen. Dabei konnte schon gezeigt werden, dass NTD-Interventionen auch systemische Wirkungen haben, wie die Gabe von Antibiotika bei der Trachom-Behandlung, die auch gegen andere Infektionen wirken und dadurch die krankheitsbedingte Mortalität gerade bei Kindern insgesamt senken können.

Eingebunden in die UN-Nachhaltigkeitsziele (SDGs) vollzieht die WHO nun mit der neuen Roadmap 2030 eine bemerkenswerte Kurskorrektur. Mit diesem Paradigmenwechsel sollen gewachsene und neue NTD Partnerschaften für das Erreichen der ehrgeizigen Ziele besser koordiniert und zusammengebracht werden.

Dabei kommt der Betonung von gemeindezentrierten Ansätzen zu Recht zentrale Bedeutung zu: von NTDs betroffene Menschen müssen systematisch und von Anfang an aktiv und inklusiv in die Planung, Durchführung und Evaluierung von Programmen eigebunden werden.

Dies geht einher mit einer Schwerpunktverlagerung hin zu ganzheitlicheren und sektorübergreifend angelegten Programmen. So hebt die WHO-Roadmap ausdrücklich die Bedeutung einer vertieften Zusammenarbeit mit dem WASH-Sektor hervor, wie auch die Notwendigkeit, verstärkt One Health-Ansätze zu verfolgen.

Welche Rolle spielen alte und neue Partner bei der Umsetzung der Strategie?

Die neue NTD Roadmap 2030 baut auf den bisherigen Erfolgen und bestehenden Partnerschaften auf. Dazu gehören z.B. krankheitsspezifische Koalitionen mit ihrer technischen und programmatischen Expertise, ebenso wie diverse vom Pharmasektor unterstützten Medikamenten-Spendenprogramme.

Aber wir müssen unsere Anstrengungen in vielen Bereichen gehörig verstärken, um unsere ambitionierten Ziele – die Eindämmung aller 20 NTDs – tatsächlich erreichen zu können. Wir benötigen mehr Medikamentenspenden und müssen die Verteilungsstrukturen und begleitenden Gesundheitsmaßnahmen ausweiten. Und wir benötigen verstärkte Forschungs- und Entwicklungsanstrengungen für zusätzliche innovative Diagnostika und Wirkstoffe.

Darüber hinaus ist es für die Umsetzung der neuen NTD Roadmap 2030 unabdingbar, neue Partner einzubeziehen, etwa aus den Bereichen WASH (Wasser-, Sanitär und Hygieneversorgung) sowie One Health mit den wichtigen Schnittstellen zwischen Menschen, Tieren und ihrer gemeinsamen Umwelt. Aber wir sollten auch Partnerschaften zu weiteren Gesundheitsakteuren vertiefen, wie der HIV-/AIDS-, Tuberkulose und Malaria-Community. Die Zusammenhänge zwischen NTDs, Stigma und mentaler Gesundheit liegen ebenfalls auf der Hand. Eine systematische Behandlung erfordern auch andere durch NTDs hervorgerufene oder verstärkte Krankheiten, wie die weibliche Genital-Bilharziose, die das Risiko von HIV-Infektionen für die betroffenen Frauen und Mädchen massiv erhöht.

Was sind die großen Herausforderungen in den kommenden 10 Jahren?

Entscheidend für den Erfolg bis 2030 wird sein, wie durch effektives Zusammenführen bisher oft getrennter, nebeneinander laufender Programme größere Effizienz und Nachhaltigkeit erreicht werden kann; wie durch das systematische Einbinden von NTD Programmen in allgemeine Gesundheits- und Entwicklungssysteme Kongruenzen geschaffen und lokale Ressourcen gestärkt werden können; und wie die zu erwartenden Herausforderungen der „letzten Meilen“ gemeistert werden.

Dies schließt insbesondere ein, lokale Antworten für besonders von Armut und Krisen erschütterte Länder und Regionen zu finden, die erhöhten Kosten bei abnehmenden Fallzahlen zu schultern, die mit zunehmendem Erfolg vermutlich abnehmende Investitionsbereitschaft von nationalen Regierungen und internationalen Spendern zu überwinden, und mögliche Probleme wie z.B. Resistenzentwicklungen zu meistern.

Die Ebola Epidemien in Afrika und die COVID-19 Pandemie machen überdeutlich, wie Armut, Ungleichheit und schwache System alle Menschen bedrohen.

Die neue WHO NTD Roadmap 2030 zeigt auf, wie wir gemeinsam NTDs als Krankheiten besonders armer, vernachlässigter und marginalisierter Menschen überwinden können. Dafür müssen wir uns alle – gerade auch durch die Regierungen wohlhabenderer Länder wie Deutschland – noch intensiver engagieren.


Dieses Interview ist in Zusammenarbeit mit dem DEUTSCHEN NETZWERK gegen vernachlässigte Tropenkrankheiten entstanden.

Mit Medikamenten gegen armutsassoziierte Tropenkrankheiten

1987

Flussblindheit

Beginn des WHO-Programms für Flussblindheits-Patienten; MSD spendet das Medikament

1992

Leishmaniose

Unterstützung des Leishmaniasis Control Programs der WHO durch Gilead Sciences; ab 2011 auch Spende eines Medikaments

Lepra

Beginn des Programms der WHO für kostenfreie Behandlungen; Novartis spendet (seit 2000) die Medikamente

1995

Afrikanische Schlafkrankheit

Beginn der WHO-Programme gegen Schlafkrankheit; Sanofi (seit 2001) und Bayer (seit 2002) spenden die Medikamente, seit 2009 auch für eine neue Kombinationstherapie

1998

Trachom

Beginn der „International Trachoma Initiative“; Pfizer spendet das Medikament

2000

Elefantiasis, lymphatische Filariose

Beginn der „Global Alliance to Eliminate Lymphatic Filariasis“; die Medikamente spenden GlaxoSmithKline, MSD, Eisai und Sanofi

2003

DNDi

Gründung der „Drugs for Neglected Diseases Initiative“ (DNDi), einer Product Development Partnership zur Entwicklung neuer Medikamente v. a. gegen armutsassoziierte Tropenkrankheiten. Zahlreiche Pharma- Unternehmen wirken seither an der Forschung und Entwicklung mit.

2004

Chagas-Krankheit

Beginn der Bekämpfungsprogramme der WHO; Bayer spendet das Medikament

2006

bodenübertragene Würmer

Beginn der Initiative „Children Without Worms“; Janssen und GlaxoSmithKline spenden die Medikamente

2007

Bilharziose

Beginn der WHO-Programme gegen die Krankheit; Merck spendet das Medikament


Leberegel-Befall
(Fasziolose)

Beginn des WHO-Programms gegen Fasziolose; Novartis spendet das Medikament

2010

Lungenegel-Befall
(Paragonimose)

Beginn des WHOProgramms gegen Paragonimose; Novartis spendet das Medikament

2011

WIPO Re:Search

Gründung von WIPO Re:Search. Diese Organisation fördert den Austausch von Forschungsergebnissen, Technologien und Lizenzen zwischen Firmen und Forschungseinrichtungen, u. a. zu armutsassoziierten Tropenkrankheiten.

2012

London Declaration

Regierungen, Organisationen und Unternehmen vereinbaren eine partnerschaftliche Ausweitung der Bekämpfung von zehn armutsassoziierten Tropenkrankheiten; beteiligt sind die Unternehmen Abbott (heute AbbVie), AstraZeneca, Bayer, Becton Dickinson, Bristol-Myers Squibb, Eisai, Gilead Scienes, GlaxoSmithKline, Janssen (Johnson & Johnson), Merck, MSD, Novartis, Pfizer und Sanofi

2015

Rekord

Mit Arzneimitteln für mehr als 1,5 Milliarden Behandlungen wird ein neuer Jahres-Rekordwert bei gespendeten Medikamenten gegen armutsassoziierte Tropenkrankheiten erreicht.

2020

Etappenziel

Bis zu diesem Jahr sollen zehn armutsassoziierte Tropenkrankheiten regional eliminiert oder eingedämmt sein. Die Bekämpfung solcher Krankheiten wird aber weitergehen.