Gesundheit wird teurer - Welle der Kritik
Berlin (dpa) - Mit höheren Beiträgen für Versicherte und Arbeitgeber stopft die Koalition das drohende Milliardenloch der Krankenkassen. Die 50 Millionen Kassenmitglieder sollen künftige Mehrkosten im Wesentlichen durch steigende Zusatzbeiträge tragen. Die umstrittene Gesundheitsreform von Union und FDP passierte ein Jahr nach der Bundestagswahl das Kabinett. Opposition und Verbände warnten vor dem Ende des Solidarsystems. Gesundheitsminister Philipp Rösler (FDP) verteidigte die Reform als gerecht: «Es gibt dazu keine vernünftige Alternative.» Die CSU will Nachbesserungen.
Kernpunkte sind die Beitragssatzerhöhung von 14,9 auf 15,5 Prozent und Zusatzbeiträge ohne Obergrenze. Der Satz soll eingefroren werden. Das Beitragsplus und die Dämpfung des Umsatzanstiegs von Ärzten, Pharmaindustrie und Kliniken um 3,5 Milliarden Euro sollen den gesetzlichen Kassen rund zehn Milliarden Euro bringen - und das drohende Defizit 2011 ausgleichen. «Hätten wir nichts getan, dann wäre das System im nächsten Jahr gegen die Wand gefahren», sagte Rösler.
Die Zusatzbeiträge sollen allein die Arbeitnehmer entrichten, und sie werden immer pauschal fällig - unabhängig vom Einkommen. Ab 2012 sollen sie allmählich steigen. 2020 könnten es im Schnitt 80 Euro im Monat sein, sagte der Ökonom Jürgen Wasem der «Saarbrücker Zeitung». Die Regierung erwartet bis zu 16 Euro 2014. Ein Ausgleich aus Steuermitteln soll die Belastung auf maximal zwei Prozent des Einkommens drücken. Beträgt der Zusatzbeitrag beispielsweise 20 Euro, erhalten alle Versicherten mit einem Bruttoeinkommen von weniger als 1000 Euro einen Steuerausgleich. «Damit beziehen wir erstmals alle Einkommensarten, vor allem auch höhere Einkommen, in die Solidarität ein», sagte Rösler.
Die Zusatzbeiträge entkoppelten erstmals die Krankenversicherungs- von den Lohnzusatzkosten, versprach Rösler. Die von Kasse zu Kasse unterschiedlichen Pauschalen kurbelten den Wettbewerb an. Von einer «Jahrhundertreform» wollte Rösler nicht sprechen.
In der Koalition ist das letzte Worte zu der Reform noch nicht gesprochen. Bayerns Gesundheitsminister Markus Söder (CSU) sagte: «Ich habe eine gewisse Grundskepsis, ob dieses Modell auf Dauer der demografischen Herausforderung wirklich entspricht.» Nachgebessert werden müssten die Sparregeln bei den Ärzten, da Bayern benachteiligt werde. Der Vizechef der CDU-Sozialausschüsse, Christian Bäumler, kritisierte den Sozialausgleich als Gerechtigkeit nach Haushaltslage. Rösler beteuerte, die gesamte Regierung stehe hinter der Reform. Am 30. September will der Bundestag erstmals darüber beraten, der Bundesrat soll nicht zustimmen müssen.
Von allen Seiten hagelte es Kritik. SPD-Fraktionsvize Elke Ferner forderte den Rücktritt Röslers. SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles sagte: «Das ist unsoziale Abzocke.» Die SPD-Gesundheitspolitikerin Carola Reimann monierte: «Dieser Sozialausgleich ist seinen Namen nicht mehr wert.» Ihr Fraktionskollege Karl Lauterbach sagte «Spiegel Online»: «Das, was die Regierung beschließt, ist das Ende des solidarischen Gesundheitssystems.» Grünen-Fraktionschefin Renate Künast monierte «weniger Netto vom Brutto». Linke-Chef Klaus Ernst machte sich für massive Straßenproteste gegen das Gesetz stark.
Als massivsten Eingriff in die Architektur des Sozialstaats seit Gründung der Bundesrepublik kritisierte der Paritätische Wohlfahrtsverband die Zusatzbeiträge. DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach sprach von einem Affront für 70 Millionen Versicherte. «Die schwarz-gelbe Regierung betreibt aktive Sterbehilfe am solidarischen Gesundheitswesen», sagte ver.di-Vorstandsmitglied Ellen Paschke. Der Präsidenten des Sozialverband Deutschland, Adolf Bauer, sagte: «Es gibt Alternativen.» Die Arbeitgeber sollten bei der Finanzierung wieder voll mit ins Boot.
Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt monierte, höhere Beiträge trieben die Arbeitskosten um mehr als zwei Milliarden Euro nach oben. «Das belastet Wirtschaft und Beschäftigung.» Die Vorsitzende des Kassen-Verbands, Doris Pfeiffer, sagte: «Die Bundesregierung will den Krankenkassenbeitrag (...) erhöhen, damit die Einnahmen der Ärzte, Zahnärzte und Krankenhäuser weiter kräftig steigen können.»
Ärztepräsident Jörg-Dietrich Hoppe lobte Zusatzbeiträge und Ausgleich als zukunftsweisendes Finanzierungssystem, bemängelte aber weitere Sparpolitik. Rösler betonte, Arbeitgeber und -nehmer, Ärzte, Apotheker, Kassen, Krankenhäuser sowie die Industrie würden ausgewogen belastet.
Lobby-Kritik der Opposition entzündete sich am Plan, dass auch Privatkassen von Rabatten profitieren sollen, die die gesetzlichen Kassen mit Arzneimittelherstellern aushandeln. Der Wechsel zu Privatkassen soll zudem nach einem Jahr über der Verdienstgrenze möglich sein statt nach bislang drei Jahren.