Seltene Erkrankungen: 3-Punkte-Plan für eine bessere Versorgung
Seltene Erkrankungen sind kein Nischenthema. Rund 4 Millionen Menschen in Deutschland sind betroffen. Für viele von ihnen bedeutet medizinischer Fortschritt den Unterschied zwischen einem selbstbestimmten Leben und dauerhafter Abhängigkeit von Unterstützung oder frühem Tod. Trotzdem bleibt die Versorgung in vielen Fällen hinter dem Machbaren zurück. Damit Innovation auch bei diesen Patientinnen und Patienten ankommt, braucht es gezielte politische Weichenstellungen – beim Zugang zu Therapien, in der Diagnostik und beim Screening.
Es gibt drei zentrale Hebel, die darüber entscheiden, ob sich die Versorgung für Menschen mit seltenen Erkrankungen in Deutschland verbessert und die Chancen moderner Medizin genutzt werden. Die Stellschrauben betreffen:
- innovative Medikamente gegen seltene Erkrankungen (“Orphan Drugs”)
- moderne Diagnostik
- ein frühzeitiges Screening
1. Orphan Drugs im AMNOG
Das AMNOG-Verfahren ist gegenwärtig der Gatekeeper, ob neue Medikamente für die Patientenversorgung zur Verfügung stehen. Therapien für sehr wenige Betroffene haben es bei der Standardbewertung schwer. Hier sind Studien mit großen Patientenzahlen oder mehreren Vergleichsarmen häufig nicht durchführbar. Eine spezielle AMNOG-Regelung sichert aktuell den Marktzugang für viele Orphan Drugs. Aber sie wird zunehmend in Frage gestellt. Der schnelle Zugang der Erkrankten zu neuen Arzneimitteln ist massiv bedroht.
Was ist zu tun?
Wir brauchen ein AMNOG-Verfahren, das die Besonderheiten von Therapien auch bei seltenen Erkrankungen umfassend berücksichtigt:
- Erhalt der Orphan-Drug-Regelung im AMNOG, d.h. der Orphan-Status ist von der EMA anerkannt, der Zusatznutzen dieser Medikamente wird im AMNOG nicht infrage gestellt, der G-BA bewertet nur das Ausmaß des Zusatznutzens und auf dieser Grundlage finden dann die Preisverhandlungen statt; dabei ist die bestehende Umsatzschwelle (wieder) so zu bemessen, dass sie für Orphan Drugs mit geringen Umsätzen oder mit einmaliger Gabe tatsächlich ihre Schutzwirkung entfalten kann
- Weiterentwicklung des AMNOG für besondere Therapiesituationen wie eben seltene Erkrankungen, d.h. in diesen Fällen wird die bestverfügbare Evidenz aus den Zulassungsstudien, aber auch die Real-World-Evidence bei der Bewertung berücksichtigt und nicht methodisch ausgeschlossen
Ziel ist es, dass Innovationen für seltene Erkrankungen im AMNOG nicht strukturell ausgebremst werden, sondern die Patientinnen und Patienten weiterhin schnell erreichen.
2. Zugang zu Diagnostik
Viele Betroffene erleben eine jahrelange Odyssee, bevor sie ihre Diagnose bekommen – im Durchschnitt beträgt sie 4,8 Jahre. Es fehlt an standardisierten Prozessen, klarer und gesicherter Kostenerstattung und flächendeckendem Zugang zu moderner Diagnostik. Das kostet Zeit und Ressourcen – und verhindert rechtzeitige Therapien.
Was ist zu tun?
Wir brauchen eine nationale Strategie für die Diagnostik seltener Erkrankungen und die Zusammenarbeit der bestehenden Referenzzentren. Diese sollte umfassen:
- Bundeseinheitliche Diagnosepfade, die für alle Ärztinnen und Ärzte vorgeben, wann und wie seltene Erkrankungen abgeklärt werden müssen
- Flächendeckender Zugang zur Genomsequenzierung bei begründetem Verdacht (mit einheitlicher Erstattung)
- Digitale Vernetzung der Referenzzentren für seltene Erkrankungen, um Teleboards und Zweitmeinungen zu erleichtern
- Nutzung von Register- und ePA-Daten für die Qualitätsverbesserung und Evidenzgenerierung (mit hohen Datenschutzstandards)
Ziel ist es, dass jede Patientin und jeder Patient rechtzeitig die richtige Diagnose erhält – unabhängig von Wohnort oder Versicherung.
3. Frühes Screening
Früherkennungsuntersuchungen bei Kindern sind ein Meilenstein, um angeborene, schwere Erkrankungen frühzeitig zu erkennen und irreversible Schäden zu vermeiden. Diese Reihenuntersuchung ist etabliert. Neue, behandelbare seltene Erkrankungen werden aber zu langsam in dieses Programm aufgenommen. Zwischen wissenschaftlicher Evidenz und tatsächlicher Einführung liegen oft Jahre. Für seltene Erkrankungen, die erst später im Leben auftreten, fehlt es ebenfalls an Screening-Angeboten.
Was ist zu tun?
Wir brauchen ein schnell lernendes, qualitätsgesichertes Screening-System. Das bedeutet:
- Regelhafte Erweiterung der Screeningprogramme für bekannte seltene Krankheiten mit existierender Therapie
- Verlässliche bundeseinheitliche Finanzierung von Tests und Bestätigungsdiagnostik
- Einheitliche Nachverfolgung und Erfolgskontrolle über alle Bundesländer hinweg
Ziel ist es, dass keine Patientin oder Patient wegen zu langer Entscheidungsprozesse den Zugang zu einer Diagnose und verfügbaren Therapie verpasst.
Zusammenfassung
Deutschland hat das Wissen, die Infrastruktur und die Innovationskraft, um die Versorgung seltener Erkrankungen entscheidend zu verbessern. Was fehlt, ist nicht das Bekenntnis, sondern die konsequente Umsetzung:
- AMNOG modernisieren – mit indikationsgerechten Anforderungen und Verwendung verfügbarer Evidenzquellen
- Diagnostik vereinheitlichen – mit klaren Pfaden, einfacher Erstattung und vernetzter Expertise
- Screening beschleunigen – mit einem den Therapieoptionen entsprechenden Indikationskatalog und nachhaltiger Finanzierung
Wir setzen uns dafür ein, diese Themen gemeinsam mit allen relevanten Stakeholdern voranzutreiben und zügig die erforderlichen gesetzgeberischen Schritte auf den Weg zu bringen. Dafür regen wir ein gezieltes, von der Politik initiiertes Format an, das einen strukturierten Dialog und die koordinierte Umsetzung ermöglicht. Die Industrie steht für diesen Prozess bereit – damit aus medizinischem Fortschritt auch Versorgung wird. Denn selten ist nicht selten: 4 Millionen Menschen in Deutschland sind betroffen.
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