Arznei-Innovationen: Investition mit doppeltem Nutzen
Welchen Nutzen haben Arzneimittelinnovationen in den vergangenen zwei Jahrzehnten gestiftet? Wie haben sich Heilungschancen und Lebensqualität verbessert und individuelles Leid und gesamtgesellschaftliche Kosten gemindert? Auf Basis einer Literaturrecherche haben Autoren des Prognos-Instituts im Auftrag des Verbandes der forschenden Pharma-Unternehmen unter dem Titel „Innovationsradar“ eine Bilanz erstellt.

Die mediale Aufregung war beträchtlich, erwies sich aber als Sturm im Wasserglas: Im Herbst 2014 startete mit Sofosbuvir zur Behandlung von Hepatitis C das erste Direct Acting Antiviral (DAA) zunächst auf dem US-Markt, wenig später auch in Deutschland. Einstiegspreis: 1.000 Dollar pro Tablette.
Die Ausgaben der gesetzlichen Krankenkassen für die Arzneitherapie gegen Hepatitis C stiegen von 93 Millionen Euro in 2013 auf 624 Millionen Euro im Einführungsjahr und erreichten 2015 mit 1,176 Milliarden Euro einen einmaligen Peak – auch als Folge von Nachholeffekten. Denn Ärzte hatten dringend auf die Sprunginnnovation gewartet. Bis dahin standen nur unbefriedigende Behandlungsoptionen zur Verfügung. Die in den 1990er-Jahren eingeführte Interferon-Therapie brachte anfangs nur eine fünf- bis zehnprozentige Heilungsrate, war mit starken Nebenwirkungen verbunden und dauerte 48 Wochen. Die 2011 eingeführten Protease-Inhibitoren, kombiniert mit Interferon/Ribavirin, verbesserten die Heilungsrate auf bis zu 70 Prozent und verkürzten die Behandlung auf bis zu 36 Wochen.
Das Ziel: Eradikation von HCV
Folgeinnovationen verbesserten zwar die Heilungschancen, aber den wirklichen Durchbruch schaffte Sofosbuvir mit einer nur noch acht bis zwölf Wochen dauernden Therapie und einer Heilungsrate von über 95 Prozent. Dies veranlasste die WHO, das Ziel zu setzen, Hepatitis C bis zum Jahr 2030 zu eliminieren; Deutschland hat sich dieser Zielsetzung angeschlossen. Die Heilung von HCV ist für Patienten, aber auch für die Gesellschaft ein Segen: Betroffen sind meist Menschen im mittleren Lebensalter von 35 bis 55 Jahren, in Deutschland etwa 200.000 Menschen.

Mit dem Einsatz der DAA-Therapeutika werden nicht nur teure Folgekrankheiten wie Leberzirrhose und Organversagen vermieden, sondern auch Arbeitsunfähigkeit, Frühverrentungen und dadurch verursachte Produktivitätsausfälle. Die Behandlung durchbricht ferner die Infektionsketten und schützt vor Neuinfektionen. Nach Berechnungen der WHO könnten die dadurch verursachten Produktivitätsgewinne bis 2027 in Höhe von 46 Milliarden Dollar weltweit die bis dahin getätigten Investitionen in die DAA-Therapie übersteigen. Die Kosten dafür – inzwischen wieder im unteren dreistelligen Millionen-Bereich – sind also eine Investition mit hohem Nutzen.
Beachtliche Erfolge konnten in den letzten zwei Jahrzehnten auch in der Onkologie erzielt werden. Beispiel Malignes Melanom: Die Zahl der in Deutschland verfügbaren Arzneimittel ist von drei im Jahr 2000 auf 14 im Jahr 2022 gestiegen. Bei zwei Dritteln der Innovationen erkannte der Gemeinsame Bundesausschuss einen beträchtlichen Zusatznutzen. Dies sind vor allem Immuncheckpoint-Inhibitoren und Tyrosinkinasehemmer. Damit konnten im Vergleich zur konventionellen Chemotherapie die Ansprechraten von 14 auf 66 Prozent gesteigert und die Überlebenszeit der betroffenen Patienten von 10,8 auf 28,8 Monate verlängert werden.
Zu einer wachsenden Herausforderung auch in Deutschland ist inzwischen Diabetes mellitus Typ 2 geworden: Schätzungsweise neun Millionen Menschen sind davon betroffen, bei jährlich 450.000 diagnostizierten Neuerkrankungen könnten in 15 Jahren 12,3 Millionen Menschen Diabetes haben.
Die Langzeiteffekte der Erkrankung sind komplex und gefährlich: Schädigung der Blutgefäße, erhöhter Blutdruck, steigendes Risiko Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Seh- und Nierenschäden bis hin zur Dialysepflicht, schlechte Durchblutung der Beine und Füße mit Amputationsrisiken. Immer mehr Menschen erkranken früh an Diabetes und sterben vorzeitig. Wer mit 30 erkrankt, verliert rund 14 Lebensjahre. Und Lebensqualität durch Schmerzen, Verlust der Leistungsfähigkeit und Pflegebedürftigkeit. Das und Folgekomplikationen wie Herz-, Gefäßund Nierenschäden verursachen hohe volkswirtschaftliche Kosten.
Das therapeutische Arsenal ist allerdings in den letzten 25 Jahren beträchtlich gewachsen: Mit Glitazonen, Gliptinen, Glutiden, Gliflozinen und dualen Agonisten sind fünf neuartige und teils auch bei starkem Übergewicht potente Arzneimittelgruppen verfügbar, die das Risiko für schwere Folgekrankheiten und Hospitalisierungen senken.
Gewinn an Lebenszeit
Gesundheitsökonomen haben versucht, die gesamtgesellschaftlichen Effekte einer verbesserten Medizin, insbesondere durch innovative Arzneimittel zu messen. So ist in den USA die Lebenserwartung zwischen 1990 und 2015 um 3,3 Jahre gestiegen, davon lassen sich 2,9 Jahre durch zwölf definierte Faktoren wissenschaftlich erklären. 44 Prozent davon sind demnach auf eine bessere medizinische Versorgung zurückzuführen, allein 35 Prozent auf Arznei-Innovationen. Der größte Zugewinn ist dabei im Bereich der ischämischen Herzkrankheiten zu verzeichnen.
In der Onkologie, einer der innovativsten Disziplinen, hat sich die Zahl der verfügbaren Medikamente auf 240 mehr als verdreifacht. Über 50 Prozent der Krebspatienten leben inzwischen noch zehn Jahre nach der Diagnosestellung. Zwar steigt die Zahl der krebsbedingten Todesfälle weiterhin leicht an, altersstandardisiert sinkt die Zahl jedoch um 24 Prozent.
Für Spanien konnte gezeigt werden, dass Arzneimittelinnovationen zwischen 1999 und 2016 einen Lebenszeitgewinn von 2,8 Jahren bei den betroffenen Patienten bewirkt haben.
Besonders augenfällig ist die lebensrettende Wirkung von Arznei-Innovationen bei HIV und Aids: In den 1980er-Jahren war Aids noch eine mit Sicherheit tödliche Infektion, bis 1996 konnte die Lebenserwartung dann um zehn Jahre, bis 2015 bereits auf 35 bis 40 Jahre gesteigert werden. Die WHO strebt an, auch HIV bis 2030 zu eliminieren.
Erhebliche Erfolge sind auch bei der Behandlung bei Seltenen Erkrankungen möglich geworden: Menschen mit Mukoviszidose hatten 2000 eine durchschnittliche Lebenserwartung von 37 Jahren, 2023 lag sie bei 67 Jahren. Die Forschung steht gleichwohl nicht still: Erst im Oktober vergab der Bundesausschuss für eine neue Kombination gegen eine bestimmte Form von Mukoviszidose die Bestnote „erheblicher Zusatznutzen“.
Mehr Lebensqualität
Arzneimittelinnovationen ermöglichen aber nicht nur längeres Leben, sondern verbessern auch Lebensqualität. So wurde in einer US-Studie von 2023 gezeigt, dass aufgrund der zwischen 2011 und 2021 neu eingeführten Arzneimittel bei den Betroffenen der Lebensqualitätszuwachs mehr als ein QALY überstieg. Beispielhaft für die Wiedergewinnung der Lebensqualität ist die Behandlung der Osteoporose mit humanisierten monoklonalen Antikörpern. Sie stoppen nicht nur den Substanzabbau der Knochen, sondern erhöhen die Knochendichte und vermeiden Frakturen; Schmerzen und Behinderungen werden erheblich gelindert, Mobilität und Selbstständigkeit zurückgewonnen.
Obwohl Deutschland über ein gut ausgebautes Sozialsystem verfügt, entstehen durch schwere Krankheiten Kosten, die Patienten selbst tragen müssen: Zuzahlungen, Fahrtkosten, Einkommensverluste bei längerer Krankheit oder Erwerbsminderung. So blieben Krebspatienten im Jahr 2020 vier Jahre länger erwerbstätig als 15 Jahre zuvor. Bei rheumatoider Arthritis stieg seit 25 Jahren der Anteil der Patienten, die erwerbstätig blieben, von 42 auf 68 Prozent.
Wohlstand steigt
Neben dem individuellen Gewinn an Lebensqualität, sozialer Teilhabe und wirtschaftlichem Wohlergehen profitiert auch die Gesellschaft als Ganzes: durch eine Erhöhung ihres Arbeitskräftepotenzials und bessere Produktivität. Das Investment in Arznei-Innovationen bringt also eine doppelter Nutzen: individuell und gesamtgesellschaftlich.
Kosten im Rahmen des Erwartbaren
- Die Ausgaben der Krankenkassen für Arzneimittel stiegen zwischen 2010 und 2023 von 30,2 auf 50,2 Milliarden Euro, das ist ein Zuwachs von 66 Prozent. Das Ausgabenwachstum bewegt sich bei längerfristiger Betrachtung auf ähnlichem Niveau wie das der anderen großen Leistungsbereiche ambulante ärztliche Versorgung und Klinikbehandlung.
- Die tatsächlichen Arzneimittelausgaben 2023 liegen unter den statistisch erwartbaren Ausgaben, wenn man, ausgehend vom Jahr 2000, die durchschnittliche jährliche Inflationsrate und dabei den Zuwachs an verordneter Menge berücksichtigt. Erwartet werden konnten danach 52 Milliarden Euro, tatsächlich waren es 50,2 Milliarden Euro.
- Ursächlich dafür ist die Preisregulation durch AMNOG-Erstattungsbeträge und durch Rabatt-Wettbewerb bei Generika.
Dieser Text entstand in Zusammenarbeit mit der Ärzte Zeitung.