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Immer besser behandelbar: seltene Autoimmunkrankheiten

Ohne Immunsystem gäbe es keinen Schutz vor Infektionskrankheiten und Tumoren. Greift dieses allerdings auch gesunde Zellen im Körper an, kommt es zu schweren Autoimmunkrankheiten. Zu diesen zählen neben häufigeren Krankheiten wie rheumatoider Arthritis (RA) oder Psoriasis auch viele ausgesprochen seltene Erkrankungen. Forschende Pharma-Unternehmen wenden sich diesen in den letzten Jahren verstärkt zu, um sie ebenso gut behandelbar zu machen, wie das beispielsweise bei RA gelungen ist.

Stilisierte, pink und lila eimngefärbte 3D-Illustratiion von Lymphozyten, T-Zellen und Krebszellen

Immunzellen sind lebenswichtig. Doch wenn sie fehlfunktionieren, rufen sie Autoimmunkrankheiten hervor.

Seltene Autoimmunkrankheiten und die Entwicklung neuer Mittel dagegen in Biotech- und Pharma-Unternehmen hat der Biotech-Report „Medizinische Biotechnologie in Deutschland 2019 – Biopharmazeutika: Wirtschaftsdaten und Nutzen für Patienten mit Autoimmunkrankheiten“ näher beleuchtet, den BCG und vfa bio 2019 veröffentlicht haben.

Die Krankheiten

Ein generelles Merkmal von Autoimmunkrankheiten gilt auch für die seltenen (also solche, an denen nicht mehr als 5 von 10.000 EU-Bürgern leiden): Jedes Organsystem kann davon betroffen sein. Das machen einige Beispiele deutlich:

  • Bei erworbener thrombotisch-thrombozytopenischer Purpura (aTTP) bildet das Immunsystem Antikörper gegen ein bestimmtes Enzym, das an der Blutgerinnung beteiligt ist. In der Folge bilden sich kleine Gerinnsel, die den Blutfluss in Gehirn, Niere, Haut oder anderen Organen behindern können. Der damit einhergehende Mangel an Blutplättchen kann obendrein zu Blutungen an unterschiedlichen Stellen führen.
  • Eine primäre hämophagozytische Lymphohistiozytose (pHLH) ist erblich bedingt. Bei dieser Krankheit aktiviert ein Übermaß an T-Lymphozyten (eine Art von Immunzellen) zu viele Makrophagen (eine andere Art von Immunzellen), was zu hohem Fieber und übergroßer Leber und Milz führen kann. Unbehandelt überleben Kinder im Schnitt nur zwei Monate.

Andere Beispiele sind NOMID(1) (Hautausschläge, kognitive sowie Hör- und Sehverluste), Riesenzellarteriitis (Gefäßentzündungen) oder hereditäre Nephritis (Nierenentzündung). Krankheiten wie diese sind allgemein kaum geläufig, und auch die meisten Ärzte kennen sie nur aus dem Lehrbuch – fast nie lernen sie Patienten mit diesen Leiden aus erster Hand kennen. Dementsprechend ist es eine Herausforderung, dass diese Krankheiten überhaupt zügig zutreffend diagnostiziert werden.

Stilisierte 3D-Illustration eines Thrombus mit koagulierten roten Blutkörperchen

Die seltene Autoimmunkrankheit thrombotisch-thrombozytopenische Purpura verursacht kleine Blutgerinnsel.

Unternehmen entwickeln neue Medikamente

In den 1990er Jahren brachten Pharma-Unternehmen die ersten Medikamente heraus, die bei Patienten mit rheumatoider Arthritis gezielt einzelne Komponenten des Immunsystems inaktivieren konnten und damit auch bei bis dato schwer therapierbaren Patienten meist aufhalten konnte. Ein Siegeszug für diesen Ansatz folgte, der bald weiteren Patienten mit häufigen Autoimmunkrankheiten zugutekam. Parallel wuchs das Wissen über das menschliche Immunsystem. Daraufhin fühlten sich die F&E-Abteilungen der Unternehmen gerüstet, auch seltenere Autoimmunkrankheiten in analoger Weise zu adressieren.
So haben sie beispielsweise 2018 das Behandlungsrepertoire bei aTTP um einen gentechnisch hergestellten Antikörper erweitert, der bewirken kann, dass weniger Blutgerinnsel entstehen. Für Kinder mit pHLH wurde ein anderer Antikörper entwickelt, der den Körper bereit machen soll für eine Stammzelltransplantation – die einzige Möglichkeit für eine nachhaltige Therapie.

Deutsche medizinische Einrichtungen beteiligt

An der Erprobung von Medikamenten gegen häufige Autoimmunkrankheiten mit Patienten hatten und haben deutsche Kliniken und Praxen seit langem hohen Anteil – einen höheren als in allen anderen studienstarken EU-Ländern. Auch an Studien zu seltenen Autoimmunkrankheiten wirken sie mit, wenn auch noch in geringem Umfang. Dem schon genannten Biotechreport von BCG und vfa bio wurden 2018 in Deutschland Arzneimittelstudien zur Autoimmunkrankheiten der Leber (Autoimmunhepatitis), der Gallengänge (primären biliären Cholangitis), der Nieren (Lupus Nephritis), der Lunge (pulmonalen Alveolarproteinose) und mehreren Organsystemen (Systemische Sklerose) begonnen.
International werden derzeit aber auch beispielsweise neue Medikamente gegen Riesenzellarteriitis, hereditäre Nephritis, Kälteagglutinin-Krankheit und Systemische Sklerose mit Patienten erprobt.

Wesentlich: Die Orphan Drug-Verordnung der EU

Naturgemäß sind die Absatzmärkte für Medikamente gegen seltene Autoimmunkrankheiten sehr schmal. So werden in der EU z.B. weniger als zwei von 100.000 Kindern mit einer primären hämophagozytischen Lymphohistiozytose geboren und sterben meist nach wenigen Wochen schon wieder. An Systemischer Sklerose leiden höchstens zwei von 10.000 EU-Bürgern. Dem stehen aber die gewohnt hohen Entwicklungskosten für ein neues Medikament gegenüber.
Vor diesem Hintergrund sind Sonderkonditionen für ein Entwicklungsprojekt gegen eine seltene Krankheit ein wichtiger Grund für die Unternehmen, dieses Gebiet trotzdem nicht zu meiden. Dafür hat insbesondere die europäische Orphan-Drug-Verordnung von 2000 gesorgt, die ermöglicht, entsprechenden Medikamenten den Orphan-Drug-Status zu verleihen. Mit diesem Status verbunden ist unter anderem eine zehnjährige Marktexklusivität, die nicht nur Generika, sondern auch andere Medikamente mit gleichem Wirkprinzip, aber ohne Überlegenheit, vom Markt ausschließt.
Sollte sich allerdings ein Medikament gegen eine seltene Krankheit zusätzlich noch gegen eine häufigere Krankheit bewähren und eine entsprechende Zulassung erhalten, erlischt der Orphan Drug-Status und mit ihm jede Sonderbehandlung. Das ist angemessen, denn dann sind für den Hersteller ja Einnahmen auf breiterer Basis möglich.

(1) Neonatal Onset Multisystem Inflammatory Disease