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Rare Diseases: Ein Medikament ist nicht genug

Derzeit sind ungefähr 8000 seltene Krankheiten bekannt und jedes Jahr werden weitere entdeckt. „Selten“ heißt nicht „ vergessen“: Denn auch Menschen mit seltenen Erkrankungen sollen am medizinischen Fortschritt teilhaben können. Geht es um die Behandlung einer seltenen Krankheit, ist ein Medikament für eine Erkrankung nicht genug.

Eine Hand greift nach einem von mehreren Schraubschlüsseln unterschiedlicher Größe, die an der Wand einer Werkstatt hängen.

Nicht zuletzt dank der europäischen Orphan Drug-Regulation wurden in den letzten gut 20 Jahren eine ganze Reihe von Medikamenten gegen Krankheiten entwickelt, die nur selten auftreten, aber den Betroffenen große Probleme bereiten. Viele davon (Stand Ende Januar 2024: 31 Prozent) waren die ersten Medikamente, die gezielt auf die jeweilige Krankheit abgestimmt waren, und sie haben die Situation vieler Erkrankter verbessert.

Und doch lässt es sich nie mit nur einem Medikament erreichen, dass alle Menschen mit der jeweiligen Krankheit gut und nachhaltig behandelt werden können. Die Gründe dafür sind vielfältig:

Das gilt für alle Medikamente, nicht nur solche gegen seltene Erkrankungen. Die Ursachen dafür sind ganz unterschiedlich: In manchen Fällen findet sich der Grund in angeborenen Eigenschaften der Behandelten, etwa wenn diese über ein Abbauenzym verfügen, das den Wirkstoff außergewöhnlich schnell inaktiviert. Sie können auch mit den Lebensumständen in Zusammenhang stehen. Geht es um ein Medikament gegen einen bestimmten Erreger, z.B. Tuberkulose-verursachende Mykobakterien, können diese gegen das Medikament resistent sein..

Auch das gilt für alle Medikamente, nicht nur solche gegen seltene Erkrankungen. Welche der bekannten Nebenwirkungen auftreten und als wie belastend diese empfunden werden, ist von Person zu Person unterschiedlich.

So führt eine medikamentöse Krebstherapie oft durch Mutation und Selektion dazu, dass einige therapieresistent gewordene Zellen sich der Blockade entziehen und sich wieder stark vermehren können.

Das ist beispielsweise bei der chronisch-myeloischen Leukämie (CML) so, wenn man sie mit einem BCR-ABL-Kinase-Inhibitor behandelt. In Reaktion darauf haben Unternehmen nach dem ersten BCR-ABL-Kinase-Inhibitor weitere entwickelt, die sich über unter Ersttherapie erworbene Resistenzen hinwegsetzen können.

Wirksamkeitsverlust erleben aber auch einige Patient:innen mit angeborenem Mangel an bestimmten Proteinen, die über längere Zeit dadurch behandelt wurden, dass sie die fehlenden Proteine als Medikament zugeführt bekommen haben. Bei ihnen kann das Immunsystem die Stoffe als fremd bewerten und Antikörper dagegen entwickeln.

Bekannt ist dieses Problem beispielsweise von Patienten mit Hämophilie, die immer wieder intravenös Gerinnungsfaktoren erhalten haben. Hier werden die Antikörper traditionell „Hemmkörper“ genannt. Diese machen die zugeführten Gerinnungsfaktoren großenteils unwirksam, so dass die Gerinnungsstörung zurückkehrt. Um diesen Patient:innen trotzdem helfen zu können, wurden von Tieren abgeleitete Gerinnungsfaktoren, an anderen Stellen im Gerinnungssystem ansetzende Faktoren und ein Wirkstoff entwickelt, der wie ein Gerinnungsfaktor VIII wirkt, ohne dessen Molekül-Aufbau zu haben (vielmehr handelt es sich um einen bifunktionalen Antikörper).

Dauermedikationen müssen regelmäßig verabreicht werden. Geht es dabei um Infusionen oder nur durch medizinisches Personal durchführbare Injektionen, kann eine hohe Anwendungshäufigkeit mitunter das Leben der Betroffenen und ihrer Angehörigen wesentlich einschränken. Aber auch eine eng getaktete Dauereinnahme von Medikamenten zum Schlucken kann in den Lebensalltag eingreifen. Das alles sind wichtige Gründe für Unternehmen, Medikamente mit längeren Anwendungsintervallen zu entwickeln.

So konnte das erste Medikament gegen nephropathische Cystinose zwar oral eingenommen werden, das aber musste lebenslang alle sechs Stunden geschehen. Damit war beispielsweise kein Durchschlafen möglich. Ein Unternehmen konnte dann jedoch mit Hilfe einer besonderen Zubereitung ein weiteres Medikament mit gleichem Wirkstoff entwickeln, bei dem eine Anwendung alle zwölf Stunden genügt.

Ein anderes Beispiel: Die prophylaktische Behandlung mit Gerinnungsfaktoren älteren Typs bei Hämophilie B erfordert zwei bis dreimal pro Woche eine Injektion oder Infusion; und die muss in der Regel in einer medizinischen Einrichtung erfolgen. Jede Reise stellt die Betroffenen, die so behandelt werden, vor Herausforderungen. Doch seit einigen Jahren gibt es auch Gerinnungsfaktor- Medikamente, die nur noch alle ein bis zwei Wochen injiziert werden müssen. Und nun wurden und werden Gentherapien entwickelt, bei denen die Behandelten im Erfolgsfall längerfristig (und möglicherweise sogar dauerhaft) keine Gerinnungsfaktor-Gaben mehr benötigen.

Seltene Krankheiten lassen sich mitunter noch in weitere Unterformen unterteilen. Und ein gegen die eine Unterform wirksames und zugelassenes Medikament ist womöglich zur Versorgung von Patient:innen mit anderen Unterformen unbrauchbar. Dann ist es natürlich geboten, auch gegen die anderen Unterformen noch Medikamente zu entwickeln.

So war das erste Medikament für eine kausale Behandlung der Mukoviszidose nur bei Patient:innen mit einer bestimmten zugrundeliegenden Mutation einsetzbar. Erst seit es insgesamt drei kausale Medikamente gibt, können immerhin 90 % der Betroffenen kausal behandelt werden.