Deutschland verliert bei klinischen Studien weiter an Boden
Deutschland sackt seit Jahren ab im internationalen Rang bei klinischen Arzneimittel-Studien von Pharma-Unternehmen. Das zeigt eine Auswertung des öffentlichen Studienregisters Clinicaltrials.gov durch den vfa.

In klinischen Studien mit Medikamenten (auch "klinische Prüfungen" genannt) wird deren Eignung zur Behandlung einer bestimmten Krankheit geprüft und die geeignete Dosierung ermittelt. Zunächst wird in Studien der Phase I mit Gesunden die Verträglichkeit und der „Durchlauf“ durch den Körper untersucht. In den Studien der Phase II und III werden Wirksamkeit und Verträglichkeit erst bei wenigen, dann bei vielen Patient:innen geprüft. An die Zulassung des Medikaments nach Phase III schließen sich meist noch Phase IV-Studien an, in denen weitere Aspekte des Medikaments (etwa seine Eignung für Sonderfälle) untersucht oder Vergleiche mit anderen Medikamenten angestellt werden. Im Regelfall wirken an einer Studie Kliniken oder Arztpraxen vieler Länder zugleich mit.
War Deutschland im Jahr 2016 mit 641 von Pharmafirmen veranlassten klinischen Studien noch weltweite Nummer 2 nach den USA, steht es 2021 Clinicaltrials.gov zufolge mit 589 solchen Studien nur noch auf Platz 6. Es hat zwar den pandemiebedingten Tiefstand von 2020 (542 Studien) überwunden; doch wieviel steiler man aus der Pandemie herauskommen kann, zeigen Länder wie Spanien. Dieses Land wurde 2021 mit 682 Studien Europameister und nach USA (2.747) und China (1.139) weltweite Nummer 3. Es folgen UK (615) und Kanada (605). Kurz hinter Deutschland stehen Australien (542) und Frankreich (549).
Damit zeigt sich Deutschland zwar weiterhin als Land, das für forschende Pharma-Unternehmen einen hohen Stellenwert als Studienstandort hat; doch sinkt seine Bedeutung Jahr für Jahr. Auch für 2021 zeichnet sich keine Trendumkehr ab (siehe Kasten weiter unten).
Parameter der Auswertung
Gesucht wurde in Clinicaltrials.gov nach "Study Type: Interventional Studies", "Phase: Early Phase 1, Phase 1, Phase 2, Phase 3, Phase 4", "Funder Type: Industry", "Study Start from 01/01/2021 to 12/31/2021" und dem jeweiligen Land.

Einsichten aus der Praxis
Expert:innen für klinische Studien aus vfa-Unternehmen erläutern in einem Video die Stärken und Schwächen des Studienstandorts Deutschland.
vfa-Präsident Han Steutel kommentiert das so: "Der Stellenwert von klinischen Studien sagt viel über die Leistungskraft und Zukunftsfähigkeit unseres Landes. Schließlich geht es darum, ob Patienten und Patientinnen frühzeitigen Zugang zur Medizin der Zukunft haben, ob deutsche Medizin innovative Therapien mitgestalten kann und ob forschende Pharma-Unternehmen wieder mehr von ihrem internationalen Studienbudget in Deutschland ausgeben. Deshalb muss eine Trendumkehr geschafft und dann auch Platz 1 in Europa zurückgewonnen werden. Das ist erreichbar, wenn alle Beteiligten entschlossen zusammenarbeiten. Dabei nützen mehr klinische Studien am Standort Deutschland allen: Fachkräfte in Kliniken und Arztpraxen können sich durch ihre Mitwirkung schon heute mit der Medizin von morgen vertraut machen. Patienten und Patientinnen erhalten durch sie zusätzliche Chancen auf eine wirksamere Behandlung und beste Betreuung. Und Unternehmen können neue Behandlungsmöglichkeiten schneller zur Zulassung bringen, je zügiger viele Kliniken zur Mitwirkung bereit sind.“
Wo Studien von Pharma-Unternehmen in Deutschland durchgeführt werden
Die folgende Grafik zeigt die 30 deutschen Städte, in denen 2021 laut Clinicaltrials.gov die meisten von Unternehmen veranlassten klinischen Studien durchgeführt wurden.

Die Grafik lässt sich auch als pdf herunterladen.
Berlin führt mit Abstand die Reihe der studienstarken Städte an. Anders als in einigen Nachbarländern konzentriert sich das Studien-Engagement nicht auf wenige Städte; vielmehr sind medizininische Einrichtungen in weiten Teilen der Republik beteiligt. Das hilft den Interessierten, weil sie wohnortnäher Angebote zur Beteiligung finden. Die Organisation der Studien wird allerdings nicht einfacher, wenn sich die Teilnehmenden auf viele Einrichtungen verteilen, statt in wenigen großen Kliniken behandelt zu werden. Hier könnte es helfen, wenn sich Kliniken für Studien zu Netzwerken zusammenschließen, die organisatorisch als ein mitwirkender Partner agieren.
Die Verteilung auf die verschiedenen Phasen
Die von Unternehmen veranlassten und in Clinicaltrials.gov erfassten klinischen Studien des Jahres 2021 in Deutschland verteilten sich auf die verschiedenen Abschnitte der klinischen Entwicklung von Arzneimitteln wie folgt:
Entwicklungsabschnitt | Anteil der Studien |
Phase I | 13 % |
Phase II | 36 % |
Phase III | 46 % |
Phase IV | 5 % |
Quelle: Clinicaltrials.gov; Auswertung vom November 2022
Phase I/II-übergreifende Studien wurden bei Phase II eingerechnet, Phase II/III-übergreifende Studien wurden bei Phase III mitgezählt.
Daran ist ersichtlich, dass deutsche medizinische Einrichtungen vor allem an Phase III-Studien mitwirken.
Die Verteilung auf verschiedene Krankheitsgebiete
Wie in den vergangenen Jahren entfiel der größte Anteil der in Clinicaltrials.gov für Deutschland erfassten Studien auf die Erprobung neuer Therapien gegen verschiedene Krebserkrankungen. Mit weitem Abstand folgt das Therapiegebiet der immunologischen Krankheiten, zu dem sowohl allergische Erkrankungen wie auch Autoimmunkrankheiten gehören. Die weitere Aufteilung ist dem nachfolgenden Diagramm zu entnehmen. 17 der Studien zu Infektionskrankheiten betrafen die Prophylaxe oder Therapie bei Covid-19; damit war Deutschland nur an rund 3 % der 2021 weltweit initiierten ca. 490 Studien der Pharma-Unternehmen zu Covid-19 beteiligt.
Die Zusammenarbeit von Pharma-Unternehmen und Ärzten ist essenziell
Möglich ist die Erprobung von Medikamenten in Studien nur, weil Unternehmen eng mit behandelnden Ärztinnen und Ärzte in medizinischen Einrichtungen zusammenarbeiten können; und weil einige von deren Patient:innen nach umfassender Aufklärung interessiert sind, an den Studien mitzuwirken. Die finanziellen Leistungen, die vfa-Unternehmen an Einrichtungen und Fachleute zahlen, die an ihren Studien mitwirken, gehen in die jährlichen Zahlungsveröffentlichungen gemäß Transparenzkodex ein.