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Lebensqualität – Ein patientenrelevanter Endpunkt im Rahmen der Nutzen- und Kosten-Nutzen-Bewertung

Executive Summary

Die forschenden Arzneimittelhersteller sind an der zügigen Umsetzung einer Kosten-Nutzen-Bewertung interessiert. In der Nutzen- und Kosten-Nutzen-Bewertung spielt Lebensqualität eine wesentliche Rolle. Mit dem vorliegenden Argumentationspapier wollen die forschenden Arzneimittelhersteller die aktuelle Methodendiskussion konstruktiv begleiten.

Lebensqualität bezeichnet das Zusammenwirken von körperlichen, sozialen, mentalen und verhaltensbezogenen Komponenten des Wohlbefindens. Die Lebensqualität ist damit ein wichtiges und akzeptiertes Erfolgskriterium in der Medizin. Neben Symptomen, Testergebnissen und Laborwerten kann Gesundheit auch subjektiv erfasst werden. Dieser individuell erlebte Gesundheitszustand bezeichnet das Konstrukt der gesundheitsbezogenen Lebensqualität.

Die Ausrichtung von erfolgreichen Behandlungsmethoden im Hinblick auf eine Verbesserung der Lebensqualität ist für Patienten wesentlich. Gerade aufgrund der vorherrschenden chronischen Erkrankungen gewinnt das Kriterium der Lebensqualität mit ihren sozialen und ökonomischen Folgen immer mehr an Bedeutung (z.B. Behinderung, Berufsunfähigkeit).

Die forschenden Arzneimittelhersteller wollen dazu beitragen, dass Lebensqualität verstärkt in den Bewertungsprozessen des IQWiG berücksichtigt wird. Die spezifische Auseinandersetzung mit den lebensqualitätsbezogenen Begrifflichkeiten, der Methodik und der Beteiligung von Patienten bilden hier die Schlüsselwörter.

Zur adäquaten Berücksichtigung von Lebensqualität sind mehrere Optionen denkbar:

  • Um patientenrelevante Endpunkte im IQWiG-Bewertungsprozess zu bestimmen, müssen Patienten konsequent involviert werden. Den adäquaten Rahmen hierfür bildet ein Scoping-Prozess.
  • Patient-reported outcomes (PROs) bezeichnen einen Überbegriff aller beim Patienten direkt ermittelten Nutzenmaße. PROs stellen damit einen validen Indikator dar, um den medizinischen Behandlungserfolg aus Patientensicht zu bestimmen. Je nach Fragestellung sind unterschiedliche Studienformen zur Nutzenbewertung heranzuziehen. Dabei sollte dem Prinzip der bestverfügbaren Evidenz gefolgt werden.
  • In der Kosten-Nutzen-Bewertung sollten neben indikations-spezifischen Vergleichen qualitätskorrigierte Lebensjahre (QALYs) als Entscheidungsunterstützung mit zu berücksichtigen.

Die dargelegten Thesen zeigen Lösungsvorschläge auf, um Lebensqualität im Rahmen der Arzneimittelbewertung gemäß der gesetzlichen Vorgaben adäquat in den gesundheitspolitischen Entscheidungsprozessen zu berücksichtigen.

1. Hintergrund

Mit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz 2007 ist die Einführung von Erstattungshöchstbeträgen festgelegt worden. In diesem Zusammenhang steht die Änderung des § 35b Abs.1 SGB V, wodurch die Bewertung des Nutzens oder Kosten-Nutzen-Verhältnisses von Arzneimitteln durch das IQWiG durchzuführen ist. Das Gesetz legt fest, dass die Bewertung von Arzneimitteln durch den Vergleich miteinander zu erfolgen hat. Dabei soll der Zusatznutzen mit den Zusatzkosten ins Verhältnis gesetzt werden. Um den Zusatznutzen zu erfassen, hat das Gesetz folgende Dimensionen des Patienten-Nutzens bestimmt:

  • Verbesserung des Gesundheitszustandes
  • Verkürzung der Krankheitsdauer
  • Verlängerung der Lebensdauer
  • Verringerung der Nebenwirkungen
  • Verbesserung der Lebensqualität

Im Hinblick auf die letztgenannte Nutzendimension haben subjektive Parameter und PROs in den letzten Jahren erheblich an Bedeutung gewonnen.[1]

Das IQWiG hat Methoden vorgelegt, wie Zusatznutzen und darauf aufbauende Kosten- und Nutzenverhältnisse künftig gemessen werden könnten. Dabei hat das IQWiG – entgegen dem gesetzlichen Auftrag – den patientenrelevanten Nutzen nicht ausführlich dargelegt. Das Institut will lediglich klinische Maße verwenden, die sich namentlich auf Mortalität, Morbidität, gesundheitsbezogene Lebensqualität und valide Surrogatparameter beziehen.

Das IQWiG selbst definiert hier den patientenrelevanten Nutzen, der dem Gesetz entsprechen soll. Den Nutzenparametern wird jedoch eine hierarchische Ordnung beigemessen, die gesetzlich so nicht bestimmt ist. So argumentiert das IQWiG, dass Arzneimittel die primär die Lebensqualität erhöhen, von der Versorgung auszuschließen sind.[2] Hintergrund dieser Argumentation ist der §34 Abs. 1 SGB V, wodurch abgesichert ist, dass Arzneimittel, die ausschließlich die persönliche Lebensführung optimieren, nicht finanzierungsfähig sind. Das IQWiG impliziert aus dieser gesetzlichen Regelung somit jedoch eine fragliche Schlussfolgerung, aus der es den Nutzenparametern Mortalität und Morbidität die oberste Priorität beimisst und Lebensqualität dem Bereich der Lifestyle-Medikamente zuordnet.

2. Definition von Lebensqualität

Die Komponenten der Lebensqualität sind facettenreich und umfassen viele Bereiche des menschlichen Lebens, wobei Gesundheit nur einer von mehreren Bestandteilen der Lebensqualität ist. Im Gegensatz zum Gebrauch in den Sozialwissenschaften, wo der Begriff Lebensqualität auch stark ökonomische und politische Bezüge aufweist, beschreibt der Begriff Lebensqualität in der Medizin den rein gesundheitsbezogenen Aspekt des persönlichen Wohlbefindens. Unter dem Begriff „Lebensqualität“ wird hier "die vom Befragten ausgehende Beurteilung von Befinden und Funktionsfähigkeit in psychischen, physischen, sozialen und emotionalen Lebensbereichen"[3] verstanden.

Das Konstrukt der gesundheitsbezogenen Lebensqualität (health related quality of life - HRQoL) leitet sich dabei aus der allgemeinen Gesundheitsdefinition der World Health Organisation (WHO) von 1948 ab, in der Gesundheit als ein "Zustand vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht allein das Fehlen von Krankheit und Gebrechen" beschrieben wird. Gesundheitsbezogene Lebensqualität geht somit weit über rein physische Aspekte der Gesundheit im Sinne von klinischer Symptomatik oder "objektiver" körperlicher Verfassung hinaus, denn es kommen Aspekte hinzu, wie kranke Menschen ihren Gesundheitszustand subjektiv erleben, wie sie in ihrem Alltag zurechtkommen und wie sie ihre sozialen Beziehungen gestalten. Bei der gesundheitsbezogenen Lebensqualität handelt es sich somit um ein mehrdimensionales Konstrukt aus physischen, psychischen, sozialen und verhaltensbezogenen Komponenten (Alltagskompetenz) des Wohlbefindens und der Funktionsfähigkeit.[4] Wesentlich in diesem Zusammenhang ist die Beurteilung möglichst durch die Betroffenen selbst.

Beim Lesen der Methodenpapiere des IQWiG bzw. entsprechender Berichte zu Bewertungsverfahren fällt das Fehlen einer klaren Definition der Lebensqualität bzw. eine Inkonsistenz in der Verwendung der Begrifflichkeiten auf (z.B. krankheitsspezifische vs. erkrankungsbezogene Lebensqualität). Selbst wenn dasselbe Konstrukt impliziert wird, sollten gerade auch im Hinblick auf unterschiedliche Definitionen in der Literatur eine einheitliche Begrifflichkeit verwendet und klare Definitionen gegeben werden.

Instrumente zur Erfassung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität sind in Abhängigkeit von der Fragestellung sehr vielfältig und in großer Zahl entwickelt worden. Die Erhebung der Lebensqualität kann hierbei auf zwei Ebenen erfolgen. So durch Fremd- (Befragung durch Angehörige, Pflegekräfte etc.) und Selbsteinschätzung (Befragung des Patienten).

3. QALY in gesundheitsökonomischen Analysen

Generell lassen sich Methoden zur Erfassung der Lebensqualität in generische (diagnoseübergreifende), krankheitsspezifische und präferenzbasierte (Utility-) Maße unterscheiden. Generische Maße (z.B. SF-36[5], EQ-5D[6], WHOQOL-100 & WHOQOL-BREF[7]) zeichnen sich insbesondere durch eine breite Anwendbarkeit (verschiedene Populationen, Indikationen und Behandlungsformen) aus und ermöglichen den Vergleich zwischen verschiedenen Krankheiten und Populationen. Krankheitsspezifische Maße (z.B. CBS[8]) besitzen dagegen eine höhere Sensitivität für spezifische Veränderungen und erlauben somit eine bessere Zuordnung der Lebensqualitätsverbesserung zu bestimmten therapeutischen Maßnahmen. Sie sind insbesondere für Veränderungsmessungen im Rahmen klinischer Studien oder auch für den Vergleich von Therapieoptionen innerhalb der gleichen Indikation geeignet. Sowohl bei generischen als auch bei krankheitsspezifischen Maßen werden die Ergebnisse zumeist in Form eines Profils anhand verschiedener Dimensionen beschrieben, was eine sehr differenzierte und umfassende Nutzendarstellung ermöglicht.[9]

Bei den ebenfalls diagnoseübergreifenden präferenzbasierten Techniken (Nutzwerte, Utilities) werden die Ergebnisse zur Bewertung von Lebensqualität durch Gewichtungsschemata in Form eines einzigen Index dargestellt, wobei die Gesamtheit aller relevanten Beeinträchtigungen abgebildet werden soll. Die erfassten Nutzwerte eignen sich somit insbesondere zur Verwendung in gesundheitsökonomischen Analysen (Kosten-Nutzwert-Analysen), denen die Fokussierung auf ein ausschlaggebendes Kriterium inhärent ist. Die Ergebnisse zur Lebensqualität können hierbei mit Angaben zur Lebenszeit verknüpft werden, woraus sich "qualitätskorrigierte Lebensjahre" ergeben. In der Gesundheitsökonomie hat sich die Ermittlung von QALYs im Rahmen von Kosten-Nutzwert-Analysen international etabliert.[10]

Das Gesetz hat mit seiner Darlegung der wesentlichen Nutzenparameter eine Basis geschaffen, welche auch die Möglichkeit einer Verwendung von QALYs im Rahmen von Kosten-Nutzwert-Analysen eröffnet (vgl. dazu Abschnitt 7). Diese ist durch die beiden Parameter „Verlängerung der Lebensdauer“ und „Verbesserung der Lebensqualität“ gegeben. Die Bedeutung von Kosten-Nutzwert-Analysen hat das IQWiG bereits in seinem ersten Methodenentwurf 1.0 zur Kosten-Nutzen-Bewertung benannt.[11]

Der QALY wird definiert als eine Maßeinheit, die durch eine medizinische Intervention gewonnene Lebensjahre unter Berücksichtigung der Auswirkungen auf die Lebensqualität ausdrückt. Dabei wird die Lebenserwartung mit einem Qualitätsindex (Faktor q) gewichtet, der Werte zwischen 1 (vollständiges Wohlbefinden) und 0 (Tod) annehmen kann“.[12]
Dieses Konzept ermöglicht indikationsübergreifende Vergleiche und unterliegt fortlaufender, wissenschaftlicher Diskussionen. Häufig wird argumentiert, dass der QALY-Ansatz das komplexe Konstrukt Lebensqualität nicht in ausreichendem Maße reflektieren kann und die psychometrische Qualität eher als unzureichend einzuschätzen ist. Problematisch wird ebenso angesehen, dass die Validität in einigen Indikationsbereichen nicht ermittelt ist und verschiedene Methoden zur Messung eines solchen Nutzwertes in differenten Ergebnissen münden können, die damit zu verschiedenen Kosten pro QALY führen. Neben der methodischen Debatte werden ethische und moralische Aspekte des QALY kontrovers diskutiert, z. B. ob geringe Veränderungen im QALY bei beispielsweise 10 Patienten anders zu bewerten sind, als große Veränderungen bei beispielsweise nur drei Patienten. Auch die Annahme der Linearität des Nutzwertes, also einer Gleichwertigkeit einer Verbesserung im Nutzwert von z.B. 0.3 auf 0.4 im Vergleich von 0.9 auf 1 wird häufig kritisch hinterfragt.

Das IQWiG thematisiert diese problematischen Aspekte in seinen Methoden 1.1 dahingehend, dass QALYs eine zweifelhafte Wahl für die Bewertung von Gesundheitstechnologien als zusammenfassendes Maß innerhalb eines Indikationsbereiches seien, schließt die Verwendung von Utility-Maßen und die Generierung von QALYs jedoch nicht explizit aus.[13] Dies scheint insbesondere im Kontext der offensichtlichen Problematik der Generierung (indikationsspezi-fischer) Kardinalmaße im Kontext der Kosten-Nutzen-Bewertung zu stehen.

Genannten Nachteilen stehen Vorteile gegenüber, die den QALY als ein Maß darstellen, das für die gesundheitsökonomische Bewertung von Arzneimitteln im Hinblick auf eine adäquate Ressourcenallokation sehr wertvoll ist. So fasst der QALY zwei Aspekte in einer Einheit zusammen, die für kranke Menschen ganz entscheidend sind - Lebensqualität und Lebenszeit. Die Methoden der Erfassung dieser beiden Elemente sind international jahrelang erprobt, wissenschaftlich konsentiert und zeichnen sich durch eine einfache Handhabbarkeit aus. Ein wesentlicher Vorteil des QALY-Ansatzes ist die Möglichkeit indikationsübergreifender Vergleiche.

Bei der Logik der "Effizienzkurve" des IQWiG können z.B. mögliche Inkonsistenzen auftreten, wenn eine neue Therapie einen Zusatznutzen aufweist, aber dennoch nicht als "kosteneffektiv" gilt, weil die Vergleichspräparate seit langem generisch und billig sind. Eine solche Therapie könnte trotzdem gesamtgesellschaftlich wünschenswert sein. Ein weiteres Beispiel sind Arzneimittel, die in mehreren Indikationsbereichen wirksam sind. Hier kann der QALY-Ansatz wertvolle Zusatzinformationen liefern und somit zu einer "gerechteren" Ressourcenallokation beitragen.

Der QALY-Ansatz hat sich bei der Bewertung von Arzneimitteln international etabliert. Neben dem QALY wurden weitere Indexmaße entwickelt, um Gesundheit in Kosten-Nutzwert-Analysen zu integrieren. Die Saved-Young-Lifes-Equivalents (SAVEs) und Healthy-Years-Equivalents (HYEs) bezeichnen hierbei die Alternativen des QALY und finden jedoch gegenwärtig in gesundheitsökonomischen Evaluationsstudien keine Anwendung.[14] Der QALY-Ansatz bildet damit den derzeit vorherrschenden Ansatz, Entscheidungen zur Ressourcenallokation im Gesundheitswesen herbeizuführen und vermeidet durch seinen indikationsübergreifenden Vergleich, dass Krankheiten ungleichwertig betrachtet werden.

Alle genannten Verfahren zur Erfassung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität sind grundsätzlich zur Bewertung des Nutzens von Arzneimitteln geeignet, wobei die Auswahl konkreter Methoden und Messinstrumente von der jeweiligen Fragestellung abhängig ist. Methodische Aspekte, wie zum Beispiel die Frage der klinischen Relevanz (versus Signifikanz), die Rolle von Response-Shifts oder Wohlbefindensparadigma bedürfen jedoch weiterer Klärung.

Wie sich die Ergebnisse der Lebensqualitätsmessung in die Kosten-Nutzen-Bewertungen des IQWiG übertragen lassen (Stichwort kardinalisiertes Nutzenmaß), ist dagegen durch eine Vielzahl von Fragen gekennzeichnet, die zur Zeit völlig ungelöst sind. Das bislang noch nicht praktizierte Konzept des IQWiG muss erst noch zu Ende entwickelt und evaluiert werden, bevor es zur Anwendung kommen kann.

These 1
Empfehlenswert ist eine Kombination von Utility-Maßen und krankheitsspezifischen Instrumenten im Rahmen der Arzneimittelbewertung. Insbesondere für die Nutzenbewertung ist eine differenzierte Herangehensweise und Methodenvielfalt erforderlich, da Utilities hier nicht ausreichend sind. Bei der Kosten-Nutzen-Bewertung sollten im Sinne einer "gerechten" Ressourcenallokation QALYs neben indikationsspezifischen Vergleichen als Entscheidungsunterstützung mit berücksichtigt werden, da diese auch indikationsübergreifende Vergleiche ermöglichen.

4. Lebensqualität und Patient-reported outcomes

Im Gesetz werden Kriterien des patientenrelevanten Nutzens definiert, wobei sich die Frage stellt, ob dieser mit den genannten Dimensionen wirklich ausreichend abgedeckt wird.

Ein wichtiger Aspekt der gesundheitsbezogenen Lebensqualität wird in Form des Konzepts der sogenannten "Patient-reported outcomes" (PROs) abgebildet, die als "measurement of any aspect of a patient´s health status that comes directly from the patient, without the interpretation of the patient´s responses by a physician or anyone else"[15] beschrieben werden. Der Begriff PRO stellt somit einen Überbegriff für alle direkt von Patienten erhobenen Outcomes dar, worunter neben der HRQoL auch andere für die Beurteilung des Patientennutzens relevante Aspekte wie z.B. Behandlungszufriedenheit und Adhärenz fallen.[16]

PROs liefern wichtige Zusatzinformationen über die Bedeutung von Therapien aus Patientensicht und stellen einen validen Indikator des Patientennutzens dar. Sie ergänzen klinische Outcomeparameter, indem sie Informationen über die "objektive" Wirksamkeit und Sicherheit von Arzneimitteln hinaus liefern. Patienten liefern zudem eine einzigartige Perspektive auf die Wirksamkeit von Behandlungen, was eine wesentlich differenziertere Beurteilung zum Beispiel zweier scheinbar gleich wirksamer Therapien ermöglicht. Auch mögliche Begleiteffekte von Therapien auf relativ symptomfreie Erkrankungen (z.B. Bluthochdruck) lassen sich besser bewerten, wenn nicht ausschließlich physiologische Maße herangezogen werden.

Die Relevanz von PROs bei der Bewertung von Arzneimitteln wird nicht zuletzt durch die im Februar 2006 veröffentlichte Draft Guidance der amerikanischen Zulassungsbehörde FDA unterstrichen. Die Lebensqualität stellt in diesem Zusammenhang ein wichtiges Kriterium bei der Bewertung neuer Therapien durch die Zulassungsbehörden dar. Zwischen 1997 und 2002 beinhalteten 30% der neuen Medikamente, die durch die FDA zugelassen wurden, PROs im Produktlabel.[17]

Auch im Allgemeinen Methodenpapier 3.0 des IQWiG wird explizit auf die mögliche Berücksichtigung von PROs verwiesen: "Für die […] beschriebenen patientenrelevanten Nutzendimensionen können auch patientenberichtete Endpunkte zum Einsatz kommen. Neben der gesundheitsbezogenen Lebensqualität und der Behandlungszufriedenheit können auch andere Nutzendimensionen mittels PRO erfasst werden, wie z. B. Symptome der Erkrankung[...]"[18]. Das IQWiG greift für die Relevanz der eingesetzten Instrumente auf die Angaben in den entsprechenden indikationsspezifischen Leitlinien der Zulassungsbehörden zur Messung von PRO zurück. Dabei werden bei der Auswahl der zu berücksichtigenden Evidenz vom IQWiG jedoch dieselben Kriterien zugrunde gelegt wie für andere Endpunkte: "[...] Das heißt, dass auch im Falle von PRO einschließlich gesundheitsbezogener Lebensqualität und Behandlungszufriedenheit randomisierte kontrollierte Studien am besten für den Nachweis eines Effekts geeignet sind."[19]

Insbesondere beim Nachweis von für bestimmte Erkrankungen bedeutsamen Compliance-/ Adhärenzeffekten (z.B. psychiatrische Erkrankungen) stellt diese methodische Forderung allerdings ein Risiko für Fehlschlüsse dar, da sich diese Effekte und insbesondere deren klinische Relevanz nicht in randomisierten klinischen Studien (RCT) erfassen lassen.

Auch gemäß der G-BA Verfahrensordnung ist der Nutzen „[…] durch qualitativ angemessene Unterlagen zu belegen. Dies sollen, soweit möglich, Unterlagen der Evidenzstufe 1 mit patientenbezogenen Endpunkten (z.B. Mortalität, Morbidität, Lebensqualität) sein.“[20] Damit muss das IQWiG prioritär RCTs in den Bewertungsprozess integrieren. Der internationale Standard der EbM sieht jedoch vor, für die Bewertung medizinischer Technologien die jeweils beste verfügbare Evidenz („best available evidence“) zu nutzen. Die Fokussierung des IQWiG auf „beste Evidenz“ ist nur bedingt zielführend. Dies hat Sir Michael Rawlins, Chairman des NICE aktuell gerade bestätigt „It is scientific judgement – conditioned by the totality of the evidence – that lies at the heart of making decisions about the benefits and harms of therapeutic interventions“.[21]

These 2

PROs sind ein valider Indikator des Patientennutzens und sollten entsprechend der zu beantwortenden Fragestellung möglichst breit (in ihrer gesamten Definitionsbreite) berücksichtigt werden. Dabei müssen je nach Fragestellung und zu betrachtenden PRO auch andere Studienformen als RCT (Prinzip der „best available evidence“) anerkannt werden, um inhaltliche Fehlschlüsse zu vermeiden.

5. Beteiligung von Patienten im IQWiG-Bewertungsprozess

Nutzen ist ein vielschichtiger Begriff. Die unterschiedlichen Bedeutungsinhalte von Nutzen resultieren in verschiedenen Sichtweisen. So wird der Nutzenbegriff im Arzneimittelrecht, im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung und in den üblichen HTA-Berichten mit unterschiedlichen Bedeutungsinhalten verwendet. Das IQWiG versteht den Nutzen als eine patientenrelevante Dimension, die mit kausal begründeten positiven Effekten durch eine Therapie einhergeht.[22] Doch wer bestimmt eigentlich, was patientenrelevant ist? Der G-BA setzt einen weiten Nutzenbegriff an, der als Ergebnis einer Nutzen-Schaden-Abwägung entsteht.[23] Diese vielseitigen Perspektiven zeigen die Relevanz der Patientenbeteiligung im Rahmen des IQWiG-Bewertungsprozesse auf.

Patientenvertreter bzw. Verbraucherorganisationen sollen im Rahmen einer Nutzenbewertung des IQWiG bei der Ermittlung relevanter Endpunkte mit einbezogen werden[24], wobei Endpunkte im Einzelfall aufgrund qualitativer Erhebungen oder Beratungen mit Patientenvertretern unterschiedlich gewichtet werden können. Unklar bleibt jedoch, wie diese Einbeziehung und Auswahl relevanter Nutzendimensionen konkret erfolgt, welche methodischen Ansätze gewählt werden und insbesondere auch, wie eine "Wichtung" relevanter Dimensionen erfolgt.

Derzeit geht weder aus dem allgemeinen Methodenpapier Version 3.0, noch aus dem vorliegenden Entwurf einer Kosten-Nutzen-Methodik hervor, wie und in welchem Umfang Fachkreise, einschließlich Patienten, bei der Definition patientenrelevanter Endpunkte und Beurteilung deren Relevanz beteiligt werden. Neben offenen Fragen zur Kardinalskalierung des Nutzens durch ausgewählte Experten im Kontext der Kosten-Nutzen-Bewertung ist zudem nicht erkennbar, wie und ob überhaupt die Wichtung/Wertung des Nutzens aus Sicht der Versicherten/Patienten in entsprechende Nutzenkonzepte einfließt. Darüber hinaus stellt sich die Frage nach der Relevanz von Therapieeffekten aus Patientensicht. Auch dieser Aspekt ist Gegenstand wissenschaftlicher Diskussionen.

Im Hinblick auf die Relevanz von klinischen Veränderungen steht insbesondere die MCID[25] im Mittelpunkt. Sie wird definiert als „[…] smallest difference in a score of a domain of interest that patients perceive to be beneficial and that would mandate, in the absence of troublesome side effects and excessive costs, a change in the patient’s management“[26] und kann mithilfe von verschiedenen Methoden[27] bestimmt werden. Aufbauend kann auf Basis der MCID eine Responder-Analyse berechnet werden, welche den intra-individuellen Unterschied spezifisch aufzeigen kann.

Die Bestimmung von MCIDs sind mit vielen Unsicherheiten behaftet. Auf Tests mit verschobenen Nullhypothesen, die klinisch relevante Überlegenheit nachweisen wollen, indem kleinere Werte als der MCID statistisch ausgeschlossen werden, sollte daher verzichtet werden.

Hier zeigt sich wiederum die Bedeutung, alle Beteiligten im Rahmen eines Scoping-Prozesses[28] frühzeitig zu involvieren, um die MCID durch alle Beteiligten adäquat zu bestimmen. Da sich die Interpretation von gesundheitsbezogener Lebensqualität primär an der Patientensicht orientiert,[29] ist diese Einbindung – insbesondere der Patienten - in den Prozess der Nutzenbewertung des IQWiG unabdinglich.

Auch wirft beispielsweise die Relation zwischen objektiven Befunden und subjektivem Befinden der Patienten viele Fragen auf, die diese Einbindung wiederum rechtfertigt. So ist aus zahlreichen Untersuchungen bekannt, dass die Beurteilungen von Krankheits- und Therapieeffekten durch Ärzte und Patienten zum Teil erhebliche Unterschiede aufweisen können. Objektive klinische Parameter und subjektives Befinden der Patienten korrelieren hierbei nur moderat. Somit stellt sich die Frage, um wessen Nutzen es bei der Bewertung von Arzneimitteln letztendlich geht. Die Auseinandersetzung mit dem Nutzenbegriff erfordert damit im IQWiG-Bewertungsprozess eine eindeutige kontextbezogene Begriffsbestimmung der patientenrelevanten Nutzenparameter und damit auch der Lebensqualität und weiterer PROs.

Die vom G-BA oder dem BMG vergebenen Bewertungsaufträge müssen regelhaft konkretisiert werden. Dies legt das IQWiG in nahezu jedem Berichtsplan dar. Diese Konkretisierung sollte regelhaft im Rahmen eines Scoping-Prozesses realisiert werden. Die Beteiligung von Wissenschaft, Patienten und Industrievertretern stellt auch beim NICE einen wesentlichen Schritt bei der Technologiebewertung[30] und ermöglicht damit eine expertengestützte Bewertung, die allen Beteiligten gerecht werden kann. Nur durch die Integration der Stakeholder gemeinsam können hier Lebensqualität und PROs adäquat berücksichtigt und MCIDs festgelegt werden. Damit kann neben der gesetzlich geforderten Einbeziehung von Lebensqualität auch eine sachgerechte Hierarchisierung der Nutzenparameter erreicht werden.

These 3

Die Einbindung von allen Beteiligten ist im Rahmen des IQWiG-Prozesses bereits zum Zeitpunkt der „Konkretisierung der Forschungsfrage und Definition der Zielkriterien“ zwingend erforderlich. Den adäquaten Rahmen stellt hier ein Scoping-Workshop dar. Dies umfasst die Formulierung der Forschungsfragen und die Definition einer der spezifischen Bewertung zugrunde liegenden Nutzen- und Wertkonzepte. Innerhalb einer Bewertung des IQWiG ist es essentiell, dass die relative Wertschätzung von Patientennutzen (Kardinalskalierung) auch durch die Patienten selbst (mit-) definiert wird.

Fazit

Das Gesetz fordert die Berücksichtigung von Lebensqualität in der Bewertung von Arzneimitteln. Dabei sind Nutzen- und Kosten-Nutzen-Bewertungen die Basis für gesundheitspolitische Entscheidungen, um Leistungen aus der gesetzlichen Krankenversicherung auszuschließen, ihre Nutzung einzuschränken oder die Erstattungshöhe zu begrenzen. In den Bewertungsprozessen des IQWiG wird Lebensqualität bislang unzureichend berücksichtigt. Zukünftig sollten z.B. zusätzlich QALYs erhoben werden, um eine gerechte Ressourcenverteilung über Indikationen hinweg zu ermöglichen.

Das Gesetz fordert die Methodik der evidenzbasierten Medizin. Diese beinhaltet eine Vorabdefinition der zu berücksichtigenden Outcomeparameter. Dabei sind auch Parameter heranzuziehen, bei denen die Patienten direkt befragt werden (PRO). Zudem ist die für die Fragestellung jeweils beste verfügbare Evidenz heranzuziehen. Dies bedeutet insbesondere bei Fragen der Lebensqualität häufig auch die Verwendung von Non-RCTs.

Das Gesetz fordert eine angemessene Beteiligung in allen wichtigen Abschnitten des Bewertungsverfahrens. Die der Bewertung zugrunde liegenden Outcomeparameter müssen daher im Rahmen eines Scoping-Prozesses frühzeitig unter Beteiligung der Patienten/Patientengruppen identifiziert werden.



1 Jöckel 2007: Zentrale Schlussfolgerungen der Kommentierten Synopse der Fachpositionen zur Kosten-Nutzen-Bewertung für Arzneimittel unter Berücksichtigung der Ergebnisse der Fachtagung am 18. Juni 2007 und der wissenschaftlichen Klausurtagung am 7./8. November 2007
2 Lange 2008: IQWiG im Dialog. Drei Jahre Nutzenbewertung im IQWiG. Eine Bestandsaufnahme
3 Bullinger 2006: Methodische Grundlagen und Aspekte der Lebensqualität, In: Deutsche Medizinische Wochenschrift 131 (Suppl. 1), S. 5-7
4 Guyatt et al., In Spilker 1996: Quality of Life and Pharmacoeconomics in Clinical Trials. 2nd Edition. Lippincott-Raven Publishers.
5 Sherbourne, Cathy D.; Ware; John E.: SF-36® Health Survey
6 The EuroQoL Group: Euroqol EQ-5D
7 GThe WHOQOL group: World Health Organization Quality of Life assessment instrument
8 Ott Brian.: Cornell-Brown Scale for Quality of Life in Dementiva
9 Fayers, Machin 2007: Quality of Life. The assessment, analysis and interpretation of patient-reported outcomes. 2nd Edition, Wiley.
10 Jöckel 2007: Zentrale Schlussfolgerungen der Kommentierten Synopse der Fachpositionen zur Kosten-Nutzen-Bewertung für Arzneimittel unter Berücksichtigung der Ergebnisse der Fachtagung am 18. Juni 2007 und der wissenschaftlichen Klausurtagung am 7./8. November 2007
11 IQWiG 2008: Methodik für die Bewertung von Verhältnissen zwischen Nutzen und Kosten im System der deutschen gesetzlichen Krankenversicherung. Version 1.0, 24.01.2008.
12 Schlander: Was genau ist eigentlich ein QALY?, In: Der Kassenarzt, Heft 7, S. 24- 5.
13 IQWiG 2008: Methodik für die Bewertung von Verhältnissen zwischen Nutzen und Kosten im System der deutschen gesetzlichen Krankenversicherung. Version 1.1, 09.10.2008
14 v.d. Schulenburg et al. 2005: Praktisches Lexikon der Gesundheitsökonomie
15 FDA 2006: Guidance for Industry: Patient-Reported Outcome Measures: Use in Medical Product Development to Support Labeling Claims. Draft Guidance. February 2006.
16 EMEA 2005: CHMP Committee for Medicinal Products For Human Use: Reflection paper on the regulatory guidance for the use of health-related quality of life (HRQL) measures in the evaluation of medicinal products. 27 July 2005.
17 Wilke et al. 2004: Measuring treatment impact: a review of patient-reported outcomes and other efficacy endpoints in approved product labels, In: Controlled Clinical Trials, Vol. 25, Issue 6, p.535-552
18 IQWiG 2008: Allgemeine Methoden 3.0, 27.05.2008
19 IQWiG 2008: Allgemeine Methoden 3.0, 27.05.2008
20 §20 Abs. 2 Satz 2 G-BA VO 2006
21 Rawlins 2008: Statistics can help, but doctors must also use their judgement, In: The Independent Oct. 16 2008, p.31, p.4
22 IQWiG 2008: Allgemeine Methoden 3.0, 27.05.2008
23 § 20 Abs.2 Satz 4 G-BA VO 2006
24 IQWiG 2008: Allgemeine Methoden 3.0, 27.05.2008
25 Minimal (clinical) important difference
26 Jaeschke et al. 1989: Measurement of health status: Ascertaining the minimal clinically important difference, In: Con Clin Trial 10: 400-415
27 Verteilungs-, Panel- und ankerbasierte Methoden nach: Wieseler: Preconference Workshop: Methoden der Lebensqualitätsforschung in der Versorgungsforschung. 16.10.2008. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung des Deutschen Netzwerks für Versorgungsforschung e.V.
28 Bekkering, Kleijnen 2008: Verfahrensweisen und Methoden zur Nutzenbewertung von Arzneimitteln in Deutschland, In: Deutsche Medizinische Wochenschrift 133 (Suppl. 7), S. 225-246
29 Guyatt et al. 2004: „Patients at the Centre: In Our Practice and in Our Use of Language“, In: ACP Journal Club 140: A-11
30 NICE 2008: Guide to the methods of technology appraisal