Nur Medikamente gegen seltene Krankheiten erhalten den Orphan-Drug-Status
Ein Medikament, das u.a. eine Zulassung gegen eine häufige Krankheit hat, kann keinen „Orphan Drug“-Status haben, also als Medikament gegen eine seltene Krankheit anerkannt sein. Trotzdem ist die Annahme weit verbreitet, dass das möglich sei.
The Boston Consulting Group hat in ihrem Biotech-Report Medizinische Biotechnologie in Deutschland 2014 „Biopharmazeutika: Wirtschaftsdaten und Nutzen für Patienten mit seltenen Erkrankungen“ dieses Thema ausführlich beleuchtet. Hier Auszüge daraus (S. 35-36):
Es gibt keine "Orphanisierung" ("Slicing") und keine "künstlichen" seltenen Erkrankungen
Hinter den Stichworten "Orphanisierung"/"Slicing" verbirgt sich der Mythos, dass Hersteller aus häufigen Erkrankungen "seltene" machen würden, indem sie Untergruppen aus größeren Anwendungsgebieten "herausschneiden" ("Slicing") und somit indirekt neue Orphan-Erkrankungen erfinden würden.
Die EMA/Europäische Kommission gewährt einem Medikament, das für eine Untergruppe von Patienten mit einer häufigeren Erkrankung vorgesehen ist, keinen Orphan-Status, sondern schließt ein "Slicing", also eine Aufteilung einer Krankheit in kleinere "orphanfähige" Teilgruppen, kategorisch aus.
Das "Slicing" wird in einer entsprechenden Regelung (EMA/COMP/15893/2009) explizit verboten. Wörtlich heißt es dort: "This is imperative to prevent the slicing of common conditions into invalid subsets. It is important that sponsors [...] are aware that this is an important issue that will be reviewed by the Committee."
Die EMA wendet diese Bestimmung konsequent an. Man kann also nur dann einen Orphan Status für eine Untergruppe innerhalb eines Anwendungsgebiets erhalten, wenn bereits das "größere" Anwendungsgebiet an sich die Bedingungen für den Orphan Status erfüllt (wie z.B. bei Ivacaftor für die Subgruppe von Mukoviszidose-Patienten mit G551D Mutation).
Doch selbst wenn ein "Slicing" möglich wäre, würde eine künstliche Aufteilung größerer Anwendungsgebiete durch Hersteller ökonomisch nur wenig Sinn machen, da für jedes Anwendungsgebiet separate klinische Studien durchgeführt werden müssten und man somit für kleinere Märkte mehr Studien durchführen müsste.
Dass die EMA in der Praxis explizit auf mögliches "Slicing" achtet, zeigen einige Orphan Status Ablehnungen. So ist es in der EU nicht möglich, für Subgruppen von Patienten mit Lungenkrebs, deren Tumor bestimmte genetische Merkmale (ALK Mutation) aufweist, den Orphan Status zu erhalten, da Lungenkrebs eine der häufigsten Tumorarten darstellt und nicht zu den seltenen Erkrankungen zählt.
Die Ausweitung eines Orphan Drug auf eine häufige Erkrankung unter Beibehaltung des Orphan-Status ist nicht möglich ("Trojaner")
Hinter dem sogenannten Trojaner-Effekt verbirgt sich die Mutmaßung, dass ein Hersteller eine Zulassung für eine seltene Erkrankung nutzt, um anschließend das Anwendungsgebiet unter Beibehaltung des Orphan Status auf eine häufige Krankheit zu erweitern. Dies ist jedoch rechtlich nicht zulässig. Ein Hersteller muss für ein Orphan Drug, sobald dieses auch für ein "großes" Anwendungsgebiet zugelassen werden soll, den Orphan Status zurückgeben bzw. würde diesen automatisch verlieren. In keinem Fall also können Orphan Vorteile auf ein Nicht-Orphan-Anwendungsgebiet übertragen werden. Der Wirkstoff eines Orphan Drug, das für eine häufige Krankheit zugelassen werden soll, muss nämlich in einem separaten Programm zu einem Medikament mit eigenem Markennamen und getrennter Vermarktung – natürlich ohne Orphan Status – entwickelt werden.
Manchmal ist es umgekehrt: Ein Wirkstoff wird zunächst für eine häufigere und anschließend für eine seltene Erkrankung entwickelt und zugelassen – z.B. Sildenafil, das zuerst gegen erektile Dysfunktion zugelassen wurde und später als Orphan-Medikament unter einem gänzlich anderen Markennamen für die seltene Erkrankung pulmonale Hypertonie, eine Form von Lungenhochdruck, eine Zulassung erhielt.
Es ist allerdings – insbesondere bei Krebsmedikamenten – durchaus möglich, dass ein Orphan Drug eine Zulassung in mehreren seltenen Anwendungsgebieten erhält. Hier muss dann für jedes Anwendungsgebiet der Orphan-Status separat beantragt und begründet werden; einen Automatismus gibt es dafür nicht. Für jede Zulassung in einem weiteren Anwendungsgebiet müssen dabei eigene klinische Studien durchgeführt
werden. Dies liegt im Interesse der Patienten mit seltenen Erkrankungen, für die einzig und allein wichtig ist, dass möglichst bald ein Orphan Drug für ihre jeweilige Erkrankung zur Verfügung steht. Ob dieses Medikament auch Zulassungen für andere seltene Anwendungsgebiete hat, darauf kommt es für die betroffenen Patienten nicht an.
Diese und weitere Informationen über Orphan Drugs finden sich im genannten Report, der sich als pdf herunterladen lässt.