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Vernachlässigte Tropenkrankheiten in der Corona-Krise

Fünf Fragen an Prof. Achim Hörauf

Prof. Achim Hörauf sitzt auf dem Panel beim World Health Summit 2019 und ist im Gespräch mit dem Publikum. Neben ihm sitzt sein Kollege Carsten Köhler vom Tropenmedizinischen Institut der Universität Tübingen und hört zu.

Prof. Achim Hörauf beim World Health Summit 2019

Herr Professor Hörauf, wo standen wir im Kampf gegen vernachlässigte Tropenkrankheiten, kurz NTDs, bevor die Corona-Pandemie über die Welt hereinbrach?

Wir waren auf gutem Weg und hatten große Pläne für das Jahr 2020. Fortschritte in Prävention, Diagnostik und Therapie schienen in greifbarer Nähe zu sein. Mit Spannung erwartet wurde auch der neue WHO-Fahrplan zur Bekämpfung vernachlässigter Tropenkrankheiten, die „NTD 2030 Roadmap“. Über die Inhalte war im Vorfeld intensiv diskutiert worden. Im Mai hätte die Weltgesundgesundheitsversammlung die Roadmap verabschieden sollen – doch aufgrund der Pandemie kam es nicht dazu. Zum Glück konnte die Ratifizierung im November nachgeholt werden. Die London Declaration, in der forschende Pharmaunternehmen, Hilfsorganisationen, Staatsregierungen und Weltbank seit 2012 die WHO-Roadmap unterstützen, sollte im Juni bei einem NTD-Gipfel im ruandischen Kigali erneuert werden. Das wird jetzt voraussichtlich 2021 passieren.

Wie wirkt sich die Pandemie im Einzelnen auf die Programme zur NTD-Bekämpfung aus?

Viele Programme wurden monatelang ausgesetzt, weil die beteiligten Länder erst einmal mit COVID-19 beschäftigt waren. Ganze Teams wechselten vom NTD-Bereich in die Pandemiebekämpfung, Transportmittel wurden abgezogen und vielerorts waren Diagnostik und Arzneimittelversorgung unterbrochen. Im Schnitt rechnen wir mit Verzögerungen von einem halben Jahr. Das wirft die Programme natürlich zurück, hat aber in der Regel noch keine dramatischen Folgen. Bei längeren Unterbrechungen sieht es anders aus. Ein Beispiel: Wird die Therapie gegen Flussblindheit ein Jahr lang ausgesetzt, verliert man die Fortschritte von drei bis vier Jahren. Der verursachende Parasit erholt sich schnell und macht dann bisherige Erfolge zunichte. Bei der Bilharziose ist das ähnlich. Ein anderes Thema ist die Haltbarkeit bereits gelieferter Arzneimittel. Erreichen sie während kurzer Programmunterbrechungen das Ablaufdatum, könnten sie aufgrund großer Sicherheitsmargen meist noch gefahrlos eingenommen werden. Probleme kann es in längeren Pausen geben, vor allem bei besonders empfindlichen Substanzen.

Welche Länder trifft der Stillstand besonders stark?

Am stärksten betroffen sind Länder mit schwachen Gesundheitssystemen. Ich denke da zum Beispiel an Zentralafrika, den Südsudan und an die beiden Kongo-Republiken. Aber es geht nicht nur um Afrika, sondern auch um Asien. In Bangladesch zum Beispiel leiden rund dreißig Prozent der Bevölkerung an der Wurmkrankheit lymphatische Filariose – ohne Medikamente sind die Patienten jetzt ganz schlecht dran. Andererseits hemmen Wurmerkrankungen den Ausbruch und die Heftigkeit von Malaria, wie molekularbiologische Studien zeigen. Länder mit wenig Malaria sind stark von COVID-19 betroffen – das gilt zum Beispiel für Südafrika. Umgekehrt scheinen Länder, in denen die Malaria grassiert, weniger unter COVID-19 zu leiden. Das sind hochinteressante erste Beobachtungen, die aber noch genau untersucht werden müssen.

Die WHO hat ein Programm zur Koordination der Bekämpfung von Covid-19 und NTDs aufgelegt. Was ändert sich dadurch in der Praxis?

Es tut sich gerade viel. Nachdem Polio weitgehend ausgerottet ist, werden weltweit ehemalige Polio-Labs in COVID-19-Zentren umgewandelt. Nach Abebben der Pandemie sollen sie, so der Plan, für die Diagnostik und Therapie von NTDs und anderen Infektionskrankheiten genutzt werden. Wir sind zuversichtlich, dass die Länder das auch so umsetzen. Was sie jetzt brauchen, ist vor allem Geld und einen langen Atem. Denn bei NTDs ist es nicht mit einer kurzen Behandlung getan. Sie führen oft zu Verstümmelungen, die lebenslang versorgt werden müssen – idealerweise in spezialisierten Gesundheitszentren. Ein weiterer wichtiger Punkt: Wir sollten die für COVID-19 entwickelten Smartphone-Algorithmen künftig für NTDs nutzen. Mit Hilfe der in Afrika weitverbreiteten Mobilgeräte ließen sich Diagnose und Überwachung der Krankheiten enorm verbessern. Hier dürfen wir, und das betont auch die WHO, nicht ins Papierzeitalter zurückfallen.

Was erwarten Sie jetzt von der Bundesregierung? Welche Wünsche oder Empfehlungen haben Sie?

Wir sollten jetzt nicht zurückfallen und die Fortschritte der letzten Jahre aufs Spiel setzen. NTDs können, wenn die Programme weiterlaufen, in zehn Jahren aus vielen Ländern verschwunden sein. Diesen Spirit müssen wir aufrechterhalten – bei uns, aber auch weltweit. Von der Bundesregierung wünsche ich mir, dass die Mittel zur Bekämpfung von NTDs weiterfließen. Das stand eine Zeitlang in Frage, nachdem das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung die Gesundheitsausgaben im Rahmen seiner One-Health-Initiative einschränken wollte. Zum Glück ist der Plan vom Tisch – dazu hat auch die COVID-19-Pandemie beigetragen. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) hat seine Afrika-Strategie erneuert, wir erwarten uns hiervon neue Medikamente und Diagnostika gegen NTDs, die in großen internationalen Produktentwicklungspartnerschaften (PDPs) entwickelt werden. Was auch sehr positiv ist: Das Bundesgesundheitsministerium trägt weiterhin in gewohntem Umfang zur Finanzierung der WHO bei. Selbstverständlich ist das nicht, wie das Ausscheren der USA zeigt. Aber auch das wird sich hoffentlich wieder ändern. Wir brauchen die Powerstaaten der Welt, um wirklich voranzukommen.