Nutzenbewertung: Weshalb der Aufruf des Bestandsmarkts so schwierig ist
Das Arzneimittelmarktneuordnungssgesetz (AMNOG) gibt dem Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) die Möglichkeit, auch eine Nutzenbewertung für schon im Verkehr befindliche Arzneimittel – also für Präparate aus dem Bestandsmarkt – zu veranlassen. Eine Wirkstoffgruppe der oralen Antidiabetika, die Gliptine, hat der G-BA bereits aufgerufen. Die kürzlich erfolgte Entscheidung des Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, einem betroffenen Unternehmen keinen einstweiligen Rechtsschutz zu gewähren, ermöglichte es dem G-BA, den Aufruf ungehindert fortzusetzen – was er am 18. April 2013 mit dem Aufruf von mehreren Wirkstoffen aus sechs Indikationsgebieten getan hat. Die forschenden Pharmaunternehmen bezweifeln, dass sich das Verfahren der frühen Nutzenbewertung sinnvoll auf den Bestandsmarkt ausdehnen lässt.
Schon die ersten Verfahren der frühen Nutzenbewertung zeigen, wie anspruchsvoll und zeitlich aufwendig sie sind (s. ). Nutzenbewertungen für Bestandsmarktpräparate werden noch weitaus aufwendiger sein als für neue Arzneimittel:
Präparate, die schon seit Jahren auf dem Markt sind, haben oft mehrere Indikationen. Für diese Produkte liegen wesentlich mehr Studien vor; die Zahl kann in die Hunderte gehen. Der Umfang der zu bewertenden Dossiers potenziert sich.
Die Zahl der Studien liegt für fast jedes Produkt im dreistelligen Bereich
Bereits nach dem Aufruf der Gliptine ergaben Recherchen in allgemein zugänglichen Datenbanken eine große Zahl von relevanten klinischen Studien, die berücksichtigt werden müssen. Im Vergleich zur Studienzahl bei neu eingeführten Arzneimitteln (2 - 3 Studien) kann die Zahl bei Bestandsmarktprodukten um Zehnerpotenzen höher liegen. Für etablierte Bestandsmarktprodukte gibt es durchaus 500 oder mehr randomisierte klinische Studien, die zu berücksichtigen wären. Bei Bestandsmarktbewertungen ist somit mit einem Dossierumfang von mehreren 100.000 Seiten zumindest für das Modul 5 zu rechnen. Dies zeigt den enormen Aufwand für die Dossiererstellung und die Herausforderung für die Selbstverwaltung, eine ordentliche Sichtung und inhaltliche Bewertung der eingereichten Materialien in den vorgesehenen Zeiträumen zu gewährleisten.
Hinzu kommt, dass jeder Aufruf von Bestandsmarktpräparaten punktuell in den Markt eingreift. Das beginnt bei der Frage, wer als Wettbewerber von wem betrachtet wird, setzt sich fort mit der Frage, zu welchem Zeitpunkt aufgerufen wird, und wirft schließlich die Anschlussfrage nach möglichen weiteren Aufrufen auf, um weitere Wettbewerbsverzerrungen zu vermeiden. So mag ein Aufruf von einigen wenigen Produkten im Ergebnis eine ganze Lawine von neuen Wettbewerbsaufrufen nach sich ziehen, die für die Selbstverwaltung kapazitätsmäßig überhaupt nicht mehr zu bewältigen sind.
Auch unter rechtlichen Gesichtspunkten ergeben sich dabei Probleme. So muss der G-BA bei dem Ermessen, welche Arzneimittel aus dem Bestandsmarkt aufgerufen werden, den Gleichheitsgrundsatz und das daraus abgeleitete Diskriminierungsverbot beachten. Daraus ergeben sich hohe rechtliche Anforderungen für das avisierte Aufrufkonzept des G-BA.
Vor dem Hintergrund der praktischen und rechtlichen Probleme und Hürden stellt sich umso mehr die Frage, ob ein Bestandsmarktaufruf überhaupt sinnvoll und notwendig ist. Zum einen ist zu bedenken, dass sich Erstattungsbeträge für neue Arzneimittel sukzessive auch auf ähnliche Präparate aus dem Bestandsmarkt auswirken werden; deren Umsätze und ggf. auch Preise werden ebenfalls sinken. Einer eigenen Nutzenbewertung samt Festlegung eines Erstattungsbetrages für sie bedarf es im Grunde nicht mehr.
Zum anderen stehen bei wichtigen Arzneimitteln des Bestandsmarktes Patentabläufe an. Dadurch werden diese Produkte frei für den generischen Wettbewerb. Das Umsatzvolumen der Produkte mit Unterlagenschutz, die noch nicht dem AMNOG-Verfahren unterliegen (Produkte mit neuen Wirkstoffen, die nach vfa-Informationen 2002 bis 2010 im Markt eingeführt wurden), belief sich 2012 auf rund 5 Mrd. Euro. Durch Abläufe des Unterlagenschutzes verringert sich das Volumen des geschützten Marktes sukzessive, bis im Jahr 2019 kein Produkt mit Unterlagenschutz mehr auf dem Markt ist, das nicht dem AMNOG-Verfahren unterzogen wurde. Das Problem der Einbeziehung des Bestandsmarkts erübrigt sich in überschaubarer Zeit selbst.
Grafik: Rückgang des Bestandsmarktes 2012 bis 2019