Trendwende in der Schmerzmittel-Entwicklung
Schmerzen können hilfreiche Warnsignale sein; doch oftmals haben sie jeden sinnvollen Zweck verloren und sind einfach nur quälend. Die moderne Schmerztherapie kennt viele Mittel zur Linderung, und Medikamente sind da nur Teil eines noch weit größeren Repertoires. Und doch kann bislang vielen Menschen nicht überzeugend geholfen werden. Dringend benötigt werden unter anderem Medikamente gegen schwere Schmerzen, die kein Suchtrisiko bergen. Pharmaunternehmen verfolgen dieses Ziel in den letzten Jahren verstärkt und berichten von positiven Ergebnissen. So könnte es in den kommenden Jahren zu einer Reihe von Neuzulassungen kommen.

Maghrepinische Säulenwolfmilch (Euphorbia resinifera): Ihr Milchsaft enthält ein Toxin, das als Schmerzmittel erprobt wird.
Zu Schmerzen kommt es auf unterschiedliche Weise. Meist sind bestimmte Nervenzellen (die Nociceptoren-Nervenzellen) der Ausgangspunkt. Sie nehmen mit vielen Zellausläufern Signale auf, die Gewebe in ihrer Umgebung aussenden, wenn sie in Schwierigkeiten sind: aufgrund von Verletzungen, Krämpfen, gewaltsamem Gedehnt-Werden, Entzündungen etc. Es gibt aber auch Schmerzen, von Nerven eigenständig oder aufgrund einer Fehlinterpretation von Umgebungssignalen hervorgerufen werden; sie heißen neuropathische Schmerzen. Was immer gilt: Wahrgenommen werden Schmerzen erst, wenn das betreffende Schmerzsignal ins Gehirn übertragen wurde.
Das Gehirn ist aber Schmerzsignalen nicht hilflos ausgeliefert, sondern in der Lage, diese noch vor dem Erreichen des Bewusstseins – innerhalb des Gehirns oder sogar weiter entfernt im Rückenmark – zu unterdrücken. Das besorgen Nervenzellen, die auf die mit der Schmerzleitung befassten Nervenzellen desensibilisierend einwirken können.
Was gegen Schmerzen helfen kann
Für die Schmerztherapie stehen heute ganz unterschiedliche Mittel zur Verfügung. Medikamente sind Teil dieses Repertoires, das aber noch viel umfassender ist und beispielsweise auch verschiedene Entspannungs- und psychotherapeutische Techniken sowie einige medizintechnische Geräte umfasst. Der Hintergrund ist, dass die Intensität, mit der Schmerzen wahrgenommen werden, stark von ihrer emotionalen Bewertung und etwa davon abhängig sind, ob sie Angst oder Depressivität anstiften – und wie weit sie es schaffen, sich Aufmerksamkeit zu verschaffen.
Das Repertoire an zugelassenen Schmerzmedikamenten ist umfangreich und divers. Viele gängige Mittel – darunter alle, die rezeptfrei erhältlich sind – stammen aus dem 20. oder sogar schon aus dem 19. Jahrhundert. In den 2000er-Jahren wurde das Repertoire vor allem um sogenannte Cox-2-Hemmer ergänzt, die etwa bei durch Entzündungen hervorgerufenen Schmerzen eingesetzt werden können, außerdem um zwei Opioide und ein Medikament gegen schwere chronische Schmerzen, das auf dem Toxin einer Meeresschnecke basiert und direkt in den Rückenmarkskanal infundiert werden muss. Seither kamen in der EU nur gegen Migräne noch weitere Medikamente heraus (zur Prophylaxe und zur Therapie), aber keine gegen andere Arten von Schmerzen.
Opioide sind bis heute als Mittel gegen schwere und schwerste Schmerzen weitgehend ohne gute Alternative. Sie erzielen ihre starke Wirksamkeit, indem sie die Arbeit der zuvor genannten Schmerzsignal-begrenzenden Nervenzellen verstärken; auch im Gehirn. Nachteilig sind aber ihre Nebenwirkungen, zu denen unter anderem eine Schwächung der Atmung und häufig auch Verstopfung zählen. Vor allem aber können Menschen leicht von ihnen abhängig werden, insbesondere von den stärksten der Opioide.
Neue Schmerzmittel in Entwicklung
Angesichts der wenigen Projekte für Schmerzmedikamente in den 2010er Jahren ist es bemerkenswert, dass man aktuell (Juni 2025) wieder ganze 45 Projekte für neue Schmerzmedikamente findet, die bereits die klinische Phase III erreicht haben oder sogar schon (in einem Fall) eine US-Zulassung erhalten haben. Und etliche weitere experimentelle Schmerzmedikamente befinden sich in früheren Stadien der Erprobung. Vermutlich hat die hohe Zahl von Patientinnen und Patienten in den USA mit einer Opioid-Abhängigkeit nach Schmerzbehandlung verdeutlicht, wie dringend solche Medikamente benötigt werden.
Viele dieser Projekte verfolgen dementsprechend auch dieses Ziel: Mittel gegen schwere und schwerste Schmerzen zu entwickeln, bei denen – anders als bei den Opioiden – kein Risiko besteht, dass Menschen davon abhängig werden. Die Forschung hat dafür eine ganze Reihe unterschiedlicher Ansatzpunkte herausgearbeitet; und Forschende in akademischen und industriellen Labors haben entsprechende neue Wirkstoffklassen entwickelt. Teilweise sind Medikamente mit diesen Wirkstoffen auch schon in Erprobung mit Patientinnen und Patienten. Hier stellen wir drei Beispiele für solche neuen experimentellen Arzneimittelklassen vor:
Opioide mit „abgezüchteter“ Suchtgefahr
Einige Forschungsgruppen und Unternehmen sehen Chancen, Opioide selbst durch Abwandlungen so zu verändern, dass kein Suchtrisiko mehr besteht. Der Hintergrund: Es ist seit längerem bekannt, dass Opioide sowohl in Gehirn und Rückenmark (also im Zentralen Nervensystem) als auch außerhalb davon (das heißt dann „peripher“) auf bestimmte Nervenzellen einwirken. Und: Die Moleküle auf den Zellen, auf die sie einwirken – die Opioidrezeptoren – sind nicht alle gleich gebaut: Man unterscheidet My-, Kappa- und Sigma-Opioidrezeptoren. Derzeit werden eine Reihe von Opioiden erprobt, die sich nur an bestimmte unter diesen Opioidrezeptoren binden, und das womöglich auch nur außerhalb des Gehirns.
Bei Patientinnen und Patienten mit Schmerzen nach Bauchoperationen hat sich in Studien beispielsweise ein neues Opioid bewährt, das nicht in Gehirn und Rückenmark gelangt und das nur an Kappa-Opioidrezeptoren bindet. Den Studienergebnissen zufolge wirkt es offenbar bei vielen Betroffenen ähnlich gut wie die schwächeren unter den schon zugelassenen Opioiden.
Die Erprobung ist aber bislang noch für keins der selektiven Opiode abgeschlossen; und dementsprechend wurde auch noch keine Zulassung beantragt.
NaV1.8-Inhibitoren
Auf der Suche nach Möglichkeiten, direkt die Nociceptoren-Nervenzellen zu blockieren, von denen Schmerzsignale ausgehen, wurden Forschungsgruppen unter anderem bei den Natriumkanälen fündig. Natriumkanäle braucht jede Nervenzelle in ihrer Zellmembran; denn sie muss zum Erzeugen und Weiterleiten elektrischer Signale imstande sein, im richtigen Moment Natriumionen aus der umgebenden Gewebsflüssigkeit hereinzulassen (später pumpt sie sie wieder hinaus).
Günstigerweise verwenden verschiedene Nervenzellen dafür unterschiedliche Versionen von Natriumkanälen. Nociceptoren-Nervenzellen – so zeigte sich – verfügen unter anderem über die Version NaV1.8: Das Na steht für Natriumionen, das V für voltage-gated (= spannungsgesteuert) und das 1.8 für die Variante. Diese Variante kommt kaum bei anderen Nervenzellen vor. Sie ist damit ein sehr plausibler Angriffspunkt für gezielt wirksame Medikamente, die ihre Wirkung außerhalb des Gehirns erzielen können.
Eine ganze Reihe von Pharmaunternehmen haben NaV1.8-Inhibitoren entwickelt und erproben sie derzeit in klinischen Studien. Ein solches Medikament hat sogar schon die Zulasssung in den USA für die Linderung von mittelschweren und schweren Schmerzen erhalten. Laut Studienergebnissen hat sein Wirkstoff eine starke schmerzdämpfende Wirkung, ohne dass sich ein Suchtpotenzial gezeigt hätte, allerdings einige andere Nebenwirkungen. Es bleibt abzuwarten, wie die anderen experimentellen Medikamente dieser neuen Klasse abschneiden und wann es auch Zulassungsanträge in der EU gibt.
Resiniferatoxin
Einen dritten Weg haben Wissenschaftler:innen beschritten, die sich an einem Naturstoff orientierten: dem Resinifera-Toxin (betont auf der dritten Silbe) aus dem Milchsaft der maghrepinische Säulenwolfsmilch Euphorbia resinifera. Diese Pflanze ähnelt einem Kaktus, zählt aber zu den Wolfmilchgewächsen. Das Resinifera-Toxin hat es in sich: Nichts löst ein intensiveres Schärfeempfinden aus als dieser Stoff; erst in 500- bis 1000-facher Verdünnung entspricht seine Schärfe der von Chilli.
Resinifera-Toxin wirkt auf bestimmte Nervenzellen ein (und nur auf diese), die an ihrer Oberfläche den TRPV1-Rezeptor tragen. Bei niedriger Dosierung bewirkt das, dass die betreffenden Nervenzellen in ihrer Aktivität gedämpft werden und ihre Zellausläufer teilweise zurückbilden. Eine höhere Dosierung würde die Nervenzellen sogar töten.
Zu den Zellen mit TRPV1-Rezeptoren gehören die nociceptiven Nervenzellen im Knie. In Studien wird daher mit Patientinnen und Patienten, die an schweren Arthrose-bedingten Kniegelenksschmerzen leiden, die lokale Injektion einer sehr geringen Dosis ins Kniegelenk erprobt. Zwischenergebnisse deuten darauf hin, dass eine halbjährliche Anwendung genügt. Das Projekt hat inzwischen die letzte Erprobungsphase, die Phase III, erreicht.
Ein neues Jahrzehnt der innovativen Schmerztherapien
Die Beispiele und die Gesamtzahl der Projekte zeigen: Das medikamentöse Repertoire für die Schmerztherapie steht vor einer wesentlichen Erweiterung, auch wenn sicher nicht jedes Projekt erfolgreich abgeschlossen werden kann. Auch wird nicht jedes der neuen Medikamente, das die Zulassung erhält, gegen jede Art von Schmerz einsetzbar sein. Doch aufgrund der unterschiedlichen Wirkprinzien der Medikamente, die derzeit parallel erprobt werden, stehen die Chancen gut, dass gegen viele Arten von Schmerz etwas dabei ist. Das ist eine positive Perspektive für Schmerzpatientinnen und -patienten, denen bisher noch nicht gut geholfen werden konnte.