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Entschlossen, die Zahl der Krebstoten auf Null zu bringen

Beim Symposium „Innovations in Oncology – Vision Zero” am 26. Juni 2019 in Berlin loteten mehr als 30 Experten aus, wie sich die Zahl der krebsbedingten Todesfälle in Deutschland in den kommenden Jahren erheblich senken lässt – durch Ausschöpfung aller Präventions- und Behandlungsmöglichkeiten. Der forschenden Pharma-Industrie komme dabei in Kooperation mit anderen Akteuren aus Ärzteschaft, Fachgesellschaften, Wissenschaft und Patientenvertretung eine wichtige Rolle zu, so der vfa-Vorsitzende Han Steutel.

Neue Medikamente und Medikamentenkombinationen haben viel zu den besseren Chancen für Krebspatienten beigetragen. Prof. Dr. Ulrich Keller, Berlin, zeigte das beim Symposium am Beispiel Multiples Myelom.

Die letzten Jahre waren von großen Fortschritten für viele Krebspatienten geprägt. Trotzdem gilt noch immer, dass rund die Hälfte der Bevölkerung in Deutschland an Krebs erkrankt und von diesen Patienten wiederum die Hälfte auch daran stirbt. Das nun schon fünfte Symposium der Reihe „Innovations in Oncology“ stemmt sich dagegen, dies für schicksalhaft und unüberwindlich zu halten. Ins Leben gerufen wurde die Reihe vom Netzwerk gegen Darmkrebs, einer gemeinnützigen Vereinigung, der es um den Transfer von der Wissenschaft zur Praxis geht. Am Netzwerk sind Stiftungen, Unternehmen und andere Institutionen beteiligt. Gastgeber der Veranstaltung war der Axel-Springer-Verlag in Berlin.

Beitrag von Medikamenten zum Fortschritt

Beispielhaft für den Beitrag, den Medikamente zum Fortschritt der letzten Jahre gegen viele Krebsarten geleistet haben, ist die Therapie des Multiplen Myeloms, einer Form von Blutkrebs. Wie Professor Ulrich Keller von der Berliner Charité berichtete, konnte durch neue Mittel und Medikamentenkombinationen die mediane Überlebenszeit von den 1990er-Jahren bis heute von drei auf acht bis zehn Jahre gesteigert werden. Weiterer Fortschritt sei zu erwarten, wenn diese Krankheit schon in einem Vorstadium erkannt und behandelt werden könne.

Von ähnlichen Fortschritten konnte Professor Michael Hallek, Universitätsklinikum Köln, zur chronischen lymphatischen Leukämie (CLL) berichten. Als wirksam hätten sich vor allem Kombinationen zielgerichteter Krebsmedikamente (signalhemmend oder immunonkologisch) erwiesen, die passend zu den jeweiligen krebsrelevanten Mutationen in den Tumorzellpopulationen der Patienten ausgewählt wurden.
Optimierte Kombinationstherapien dieser Art, so erwartet Hallek, könnten künftig Patienten mit unterschiedlichen Krebsarten zu Langzeitremissionen verhelfen, ohne dass diese eine Dauermedikation einnehmen müssten. Viele der dafür erforderlichen Medikamente gebe es schon, doch bestünden auch noch Lücken im Sortiment, wo bestimmte therapierelevante Angriffspunkte im Tumorgeschehen noch nicht mit geeigneten Medikamenten adressiert werden könnten. Es sei zu hoffen, dass diese Medikamente noch entwickelt werden können.

Nach Einschätzung von Professor Markus Kosch vom Unternehmen Pfizer seien Unternehmen auch durchaus bereit, frühzeitig ihre neuen Medikamente in Studien einzubringen, in denen sie mit ebenfalls neuen Medikamenten anderer Unternehmen kombiniert eingesetzt werden.

Neue Chancen dank Mikrobiom-Forschung

Weitere Fortschritte für eine künftig noch wirksamere Krebsprävention und -therapie dürften aus der Mikrobiomforschung kommen. Einige Bakterienarten seien ausdrücklich nützlich für Krebspatienten; so habe man festgestellt, so Professor Sebastian Zeißig von der TU Dresden, dass bestimmte immunonkologische Therapien zwingend auf das Vorhandensein einer Darmbesiedelung angewiesen seien. Andere Bakterienarten seien hingegen mit der Entstehung oder Ausbreitung von Krebs assoziiert. Bekannt sei das seit Jahrzehnten von Helicobakterien und Magenkrebs. Seit 2007 zeichne sich zudem ab, dass Fusobakterien im Darm mit Dickdarmkrebs assoziiert sind (und sogar mit Metastasen in andere Organe mitwandern). Dr. Erik Thiel Orberg von der TU München zufolge ist auch ein Toxin des Bakteriums Bacteroides fragilis an Entartungen von Zellen beteiligt; für seine Forschung dazu erhielt er beim Symposium den diesjährigen Vision-Zero-Award. – All diese Erkenntnisse könnten in Zukunft einmal für Präventionsansätze über die Ernährung oder ein gezieltes Tuning der Darmbesiedelung genutzt werden.

Der Internist Dr. Erik Thiel Orberg (2. v.r.), erhielt den diesjährigen Vision-Zero-Preis durch Prof. Dr. Diana Lüftner (Mitte) und Prof. Dr. Michael Baumann (rechts)

Ernüchternde Bestandsaufnahme

Diese Beispiele machen Mut zu glauben, dass man wirklich irgendwann allen Patienten den Krebstod ersparen kann. Von der Verwirklichung dieser Vision sei man allerdings in Deutschland noch extrem weit entfernt, so Professor Christof von Kalle, Charité Berlin; und dies vor allem deshalb, weil selbst längst gesichertes Präventions- und Therapiewissen nicht konsequent eingesetzt werde. So dauere es heute immer noch zehn Jahre, bis eine onkologische Neuerung in allen Behandlungseinrichtungen des Landes angekommen ist.

Auch werde der für Onkologen ersichtliche therapeutische Wert neuer Medikamente mitunter von dem hierzulande für Arzneimittelbewertungen zuständigen Gremium, dem G-BA, nicht anerkannt, klagte Professor Diana Lüftner, Charité Berlin, gestützt u.a. auf das Beispiel der CDK4/6-Inhibitoren gegen Brustkrebs. Sie konstatierte auch, dass der schon lange verfügbare BRCA-Gentest auf angeborenes Risiko für Brust-, Eierstock- und Pankreaskarzinom noch immer zu selten eingesetzt wird. Auch werde die Möglichkeit häufig ausgelassen, die Wahl der Krebstherapie im Sinne der personalisierten Medizin auf die validierten genetischen Marker zu stützen, bestätigte Professor Martin Schuler, Universitätsklinikum Essen: bei Lungenkrebs-Patienten sogar in 40 % der Fälle.

An der klinischen Weiterentwicklung der Therapie mit CAR-T-Zellen (patienten-eigenen, gentechnisch veränderten T-Zellen), die seit 2018 bemerkenswerte Heilerfolge erzielt, sei Deutschland nur wenig beteiligt, so Professor Peter Borchmann, Uniklinik Köln. Die Therapie sei zwar hierzulande einigen Kliniken grundsätzlich erlaubt worden und werde auch praktiziert. Doch wenn es um die Mitwirkung an klinischen Studien geht, trügen lange Genehmigungszeiten dazu bei, dass deutsche Studienzentren kaum beteiligt würden. Solche Studien würden fast ausschließlich mit Kliniken in den USA und China durchgeführt.

Dr. Christa Maar von der Felix Burda Stiftung und dem Netzwerk gegen Darmkrebs betonte in ihrem Statement, dass sie in Deutschland den politischen Willen zur Prävention vermisse. Dazu zähle, dass es bis Juli 2019 kein Verfahren gab, um Bürger automatisch zur Darmkrebsfrüherkennung einzuladen; und das jetzt eingeführte Verfahren sei kompliziert. Offizielle Aufklärungsmaterialien zur Früherkennung seien fehlkonzipiert und erweckten bei Laien eher den Eindruck, dass die Früherkennung ihnen keinen Nutzen brächte. Dabei müsse Krebsprävention eine zentrale Säule des Gesundheitssystems werden.

Immerhin erhält die Implementierung von Vorsorgemaßnahmen gegen Krebs jetzt Auftrieb durch die Arbeit im Rahmen der „Nationalen Dekade gegen Krebs“, wie mehrere Referenten deutlich machten. In diesem Rahmen sollen auch andere Maßnahmen in Deutschland zur Verbesserung der Situation angepackt werden.

Der Wert von Patientendaten

Viel Fortschritt könnte aus der Auswertung großer Mengen von medizinischen Daten von Patienten hervorgehen; da waren sich die Referenten einig. Viele von ihnen sprachen sich dafür aus, dass Patienten künftig souverän über ihre – digital erfassten – medizinischen Daten verfügen können sollen. Dazu zählt beispielsweise, dass sie diese den Ärzten oder Forschungsprojekten ihrer Wahl zugänglich machen können – aber auch kommerziellen Anbietern, von denen sie Unterstützung erwarten.

Eine wichtige Rolle könnte der Zugang zu den Daten großer Patientenkollektive in Deutschland künftig auch spielen, wenn es darum geht, geeignete Teilnehmer für eine geplante Studie mit eng definierten Einschlusskriterien zu rekrutieren: Alle Patienten mit den betreffenden Merkmalen, deren Daten gespeichert sind, könnten automatisiert kontaktiert werden und dann für sich entscheiden, ob sie mit den Studienärzten wegen einer Teilnahme Kontakt aufnehmen. In den USA, wo es Electronic Health Records schon gebe, werde das bereits erfolgreich praktiziert. In Deutschland wird das erst möglich im Rahmen von Modellprojekten wie DataBox, einer elektronischen Akte für Lungenkrebspatienten, die derzeit vom Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ), SAP und Siemens Healthineers entwickelt und mit zwei großen Krebskliniken erprobt wird. Dr. Stefanie Rudolph, DKFZ, und Marcus Zimmermann-Rittereisen, Siemens, stellten sie vor. Patienten wären durchaus bereit, ihre Gesundheitsdaten zur Verfügung zu stellen, so Rudolph, sie wollten aber auch erfahren, was mit ihren Daten gemacht wurde.

Daten aus Electronic Health Records wären auch eine gute Basis, um für weitere Investitionen im Sinne der „Vision Zero“ die richtigen Priorisierungsentscheidungen zu treffen. Darauf wies Tino Sorge, MdB, hin, der im Februar 2019 in einem Positionspapier sechs Vorschläge zur Digitalisierung der Krebstherapie zur Diskussion gestellt hat.

Kooperativ die Vision verwirklichen

Neben allen schon genannten Erfordernissen für solchen Fortschritt sei vielleicht das wichtigste, dass die verschiedenen Akteure besser als heute kooperativ zusammenarbeiten. Das betonten mehrere Referenten zum Abschluss.





Die forschende Pharma-Industrie sei dazu bereit, so der vfa-Vorsitzende Han Steutel, denn auch sie habe sich das Ziel „Zero“ zu Eigen gemacht. Der Medical Tribune gegenüber erklärte er: „Die Vision Zero ist ein Appell, nachhaltig alle Kräfte in Medizin, Industrie und Gesellschaft zu bündeln, etwa in der ‚Nationalen Dekade gegen Krebs‘. Forschende Pharma-Unternehmen haben viel beizutragen, darunter jährlich mehr als zehn neue Onkologika und Erkenntnisse für ihren personalisierten Einsatz. Wenn unser Gesundheitssystem das alles entschlossen nutzt, bekommt die Vision realistische Konturen.“